Anfangstage

Chambord – Schwerin: schöne Verwandte

Vom Reiz eines internationalen Kulturerbes. So war es in der Vergangenheit, so ist es in der Gegenwart, und so wird es in Zukunft sein: Schönheitsideale kennen keine Grenzen. Es lohnt(e) sich stets, über den heimischen Tellerrand zu schauen. Europa macht es vor – auch wenn es nicht immer einfach war und ist.

Von Dr. Bettina Comtesse de Cosnac

Ach, die lieben Verwandten, es gibt sie in jedem Bereich: im Leben, in der Malerei, der Literatur, der Gartengestaltung, der Architektur. Es gibt das Vorbild, den Ahnen und die Nachahmung, den Nachfahren. Dazwischen liegen zumeist Welten. So auch bei dem bezaubernden französischen Loire-Schloss Chambord und seiner architektonischen Erinnerung, Schloss Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern.

Als Paradebeispiel eines Renaissance-Schlosses, feiert Ersteres 2019 sein 500-jähriges Bestehen und seinen Baustil, die Renaissance, den es perfekt dekliniert. Und doch steht auch Schloss Chambord nicht als einzigartiges Novum in der Geschichte, sondern in der Nachfolge der italienischen Renaissance. Sein französischer Auftraggeber, König François I. fand ausgerechnet während der Italienkriege (Schlacht von Marignan) seine Inspiration und Vorlage, ergänzte sie jedoch um traditionelle französische mittelalterliche Elemente. Genauso wie Großherzog Friedrich Franz II. sich französische Schönheit in den hohen Norden holte und sie mit Einheimischem verband.

Aber für den Großherzog war es eine weitaus schwieriger Aufgabe, denn die Voraussetzungen und Mittel im kleinen Großherzogtum Mecklenburg und im 19. Jahrhundert waren andere. Der erst 19-jährige Großherzog Friedrich Franz II. war kein französischer König, der es sich leisten konnte, ein gigantisches Sumpfgebiet in der Sologne halbwegs trockenzulegen, um es in ein Jagdrevier umzuwandeln und mittendrin ein Schloss mit über 200 Zimmern aus schönstem weißem Tuffstein aus dem Nichts zu zaubern. Nein, der fürstlichen Herrscherglanz suchende junge Herzog musste in Schwerin auf ein an einem See gelegene bestehendes Schloss seiner Ahnen zurückgreifen. Und das Bestehende, das er auf der Burginsel vorfand, war zu seinem Bedauern bereits ein gigantischer Koloss, ein herrschaftlicher Wolkenkratzer, dem er die gewünschte französische Zierde einzuhauchen suchte.

Musikzimmer

Die Funktion beider Schlösser, höchste Repräsentationsansprüche zu erfüllen, war dieselbe. Doch auch hier gab es einen entscheidenden kulturellen Unterschied: Der Hof des französischen Königs war, wie bis Ende der Renaissance üblich, noch ein stark umherziehender Hof, und Schloss Chambord damit eine Residenz unter vielen, wo der König sich zeigen musste, um seine Herrschaft sichtbar zu machen. Im 19. Jahrhundert hingegen, hatten die Herrscherhäuser längst fest etablierte Wohnsitze, die sie, saisonal bedingt, gegen Sommerresidenzen einzutauschen pflegten. Entsprechend suchte der junge Großherzog neben Repräsentation auch modernen Wohnkomfort in Schwerin.

Während François I. als königlicher und damit von anderen Autoritäten befreiter Bauherr war und entsprechend frei und freudig auf das von ihm geförderte ausländische Multitalent Leonardo da Vinci zurückgreifen konnte, musste der junge Großherzog heimische Architekten beschäftigen und die Einmischung des Berliner Hofs erdulden. Hier herrschte ein ranghöherer lieber Verwandter, sein Oheim, König Friedrich Wilhelm IV. Erste Entwürfe der Schweriner Architekten Georg Adolf Demmler und Hermann Willebrand wurden als „scheußlich“ verworfen. Der damalige Stararchitekt Gottfried Semper, der bereits in Berlin wirkte, fand hingegen Gehör. Er trug die in Frankreich aufgekeimte Wiederentdeckung der Renaissance, die er während seiner Pariser Studienjahre 1826 bis 1830 erlebte, an den Schweriner Burgsee. Frankreich war schon oft in Europa und auch im (Groß-)Herzogtum Mecklenburg kulturelles Vorbild gewesen. Semper schlug einen Kompromiss nach der Art „das Alte bewahren und Neues ergänzen“ vor. Die breiten seeseitigen, bereits renaissancemanieristisch gefärbten Schlossflügel des 16. Und 17. Jh. wollte er weitgehend unverändert lassen. Die zum Burgsee ausgerichteten, unattraktiven Schlosstrakte hingegen sollten durch historistische, Neorenaissance-Neubauten ersetzt werden. Großherzog Friedrich Franz II. war begeistert, ließ jedoch die Pläne noch einmal von seinen eigenen Architekten überarbeiten. Er schickte sie kurzerhand auf Reisen nach England und Frankreich. Sie erweiterten vor Ort ihren künstlerischen Blick, und ihre Ergänzungen wurden 1844 vom jungen Bauherrn abgesegnet. Schloss Chambord wurde die architektonische Vorlage, zumal Schwerin – wie Chambord – bereits Ecktürmchen, steile Dächer und zinnenartige Lukarnen an den Fassaden aus dem 16./17. Jahrhundert besaß. In märchenhafter Verwandlung wurden diese und andere Chambord’sche runden, drei oder viereckigen Stilemente an den neuen Fassaden Richtung Burgsee quasi hundertfach vervielfacht und dekliniert.

Ein Spaziergang über die Schlossdächer von Schwerin ist heute ein abenteuerliches Auf und Ab entlang von Schornsteinen, Türmen und Türmchen, durch zierliche Ecken und überraschende Winkel. Kurzum eine nicht ungefährliche, deshalb nur mit Sondergenehmigung erlaubte Promenade durch ein Dach-Labyrinth, das das Monumentale des Alten Schlosses damals spielerisch und weithin sichtbar aufbrach. Das neu entstandene Architekturensemble wurde von Architekt Semper als „Nordischer Renaissancestyl“ und somit als etwas Unvergleichliches, Heimattypisches definiert.

Leider wurde Demmlers schönstes Chambord-Zitat, ein zur Stadt ausgerichteter offene Turmaufsatz der Eingangsfassade, bereits 1851 von dem preußischen Hofarchitekten Friedrich August Stüler durch eine sakralartige Kuppel ersetzt. Das großherzogliche Monogramm „F“ über dem Schlosseingang blieb jedoch erhalten. Es verweist auf die übernommene Vorliebe der Monogrammgestaltung des französischen, namensgleichen königlichen Vorbilds.

Rittersaal

Frankreich und vor allem Chambord als Architekturvorbild zu wählen war von zweifacher politischer Brisanz. Zum einen erinnerten sich die Mecklenburger noch an ihre sogenannte „Franzosenzeit“ unter Napoleon I. (1806–1812), die mit Besatzung und einem kriegsüblichen, satten Beutezug einherging. Zum anderen ehelichte 1837 die 23-jährige Helene, Herzogin zu Mecklenburg(-Schwerin), ausgerechnet den jungen französischen Thronerben, Ferdinand-Philippe von Orléans, Sohn des fortschrittlichen Louis-Philippe I., „König der Franzosen“. Dessen Ahne hatte dem Tod eines Verwandten aus dem Hause der Bourbons zugestimmt und damit die Orléans auf den Thron gebracht. Für die Legitimisten Europas ein Unding, zumal der in ihren Augen rechtmäßige, jedoch ins Exil verbannte Thronerbe Henri V. noch lebte und sich in Anlehnung an seinen Besitz – Schloss Chambord – Comte de Chambord nannte. Die vom Preußenkönig allianzstrategisch eingefädelte Heirat entfachte einen donnergleichen Familienzwist und führte quasi zur Verbannung der jungen Helene aus dem Großherzogtum Mecklenburg*. Die Vorlage „Chambord“ erhielt somit Symbolcharakter. Trotz „Verbannung“ prangt die Terracotta-Effigie der Prinzessin inmitten anderer Familienmitglieder am Schloss.

Kein Haus ohne den Dialog mit dem Umfeld. Schloss Schwerin liegt wie gesagt auf einer Halbinsel, umgeben von Seen und einem Residenzensemble zu dem Marstall, Bedienstetenhäuser und Theater gehörten. Es konnte schon damals kein Jagdrevier geschaff en werden. In Anlehnung an das französische Vorbild entstand jedoch ein formales Gartenparterre.

Schwedenhaus

Wurde Schloss Chambord in den letzten Jahren mit Blick auf die 500 Jahre Renaissance aufwendig restauriert, so wurde auch Schloss Schwerin herausgeputzt. Das Schloss bzw. die Landeshauptstadt kandidiert für die Aufnahme als UNESCO-Weltkulturerbe unter der Fahne „Residenzensemble Schwerin – Kulturlandschaft des romantischen Historismus“ und einer „Schloss-Stadt-Verbindung in eiszeitlicher Seenlandschaft“. Die Idee keimte 2000 im Bürgerverein Schloss Schwerin e. V. auf, wurde 2001 von der Stadt und 2007 vom Landtag, der das Schloss zusammen mit dem Museum nutzt, aufgegriff en und seit 2010 offi ziell vorangetrieben. Es ist ein langwieriges, aufwendiges und publikumsorientiertes Verfahren. Die Aufnahme in die Tentativliste gelang 2014 dank des „he raus ragenden universellen Wertes“. 2018 fand in Brüssel ein deutsch-französisches Kolloquium zu den „schönen Verwandten“ statt, um das Verbin dende und Internationale zu unterstreichen. Derzeit wird das „Schweriner Residenzensemble“ geografi sch festgelegt. Vierzig Häuser, Gärten und Einzeldenkmale stehen im Dialog von städtischem Raum und Naturlandschaft. Ein Managementplan, das Kulturministerium, der Landtag MV und der Welterbe Schwerin Förderverein wollen, so ein Beschluss im April, bis Jahresende den Antrag inhaltlich fertigstellen. Geplant war, das Nominierungsdossier 2021 einzureichen. Durch eine Gesetzesänderung bei der UNESCO, die nur noch die Aufnahme einer Welterbestätte pro Jahr und Mitgliedsstaat erlaubt, wurde jedoch der Antrag auf Februar 2023 verschoben.

Bis dahin sind Schloss Schwerin und seine schmucke Residenzstadt allemal eine Reise wert. Aber auch Schloss Chambord, um die Renaissance zu feiern, die Veränderungen im architekturhistorischen Stammbaum abzugleichen und das eigene Auge beim Blick über den heimischen Tellerrand zu schulen.