Schloss heidelberg

Das Schloss der britischen Stammmutter

Ein Mysterium: Vom Schloss Heidelberg stehen überwiegend nur noch Palastreste. Und trotzdem ist die Anlage am Neckar eines der meistbesuchten Touristenorte Deutschlands. Besonders US­amerikanische Besucher brachte vor Corona die Sehnsucht nach Romantik und ein Buch eines ihrer großen Literaten in Massen dorthin.

Von Christian Personn

Die Imagination macht den Reiz aus. Die Vorstellung von dem, wie es einmal früher gewesen sein muss. Denn vom Schloss Heidelberg stehen heute überwiegend nur noch Ruinen. Trutzig thront das halb zerstörte Wahrzeichen der weltberühmten Stadt seit über 500 Jahren in 80 Meter Höhe über der Stadt. Die Gebäudereste verheißen etwas Geheimnisvolles – dass sich im dunklen Inneren hinter den rötlich schimmernden Sandsteinfassaden vor Jahrhunderten ein mondänes Leben abgespielt haben muss.

Und dies verkörpern in unseren Tagen die überall präsenten Gästeführer in Kostümen aus verschiedenen Epochen der Stadt. Eine davon ist Christiane Berger Waldenegg – als eine in barocker Robe gekleidete Ehrendame aus der Zeit um 1700 führt sie stilvoll durch die Schlossanlage. Die Hamburgerin mit dem österreichischen Adelsnamen spielt vortrefflich die mittelalterliche, adlige Gesellschafterin. Ihre Rolle ist die der Nymphe de la Motthe, die Lieblingsehrendame der berühmten Sophie von Hannover (1630–1714), Kurfürstin und weltberühmte Stammmutter des britischen Königshauses.

Hofgarten

Das Leben im Schloss pulsierte

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Sophie von Hannover, aus dem Hause Wittelsbach, symbolisiert einen hochherrschaftlichen Teil der kurpfälzischen Historie dieser gewaltigen Burganlage: Sie lebte Mitte des 17. Jahrhunderts für einige Jahre in Heidelberg am Hof ihres Lieblingsbruders Karl Ludwig, bevor sie mit dem Herzog von Braunschweig-Lüneburg, dem Welfen, verheiratet wurde. Sophie kehrte später auf ihren Reisen von Hannover nach Italien immer wieder an den Neckar zurück – an ihrer Seite meist Ehrendame de la Motthe. Die heutige Darstellerin Christiane Berger Waldenegg erklärt die besondere Rolle ihrer Figur: „Sie ging hier ein und aus, kannte die damalige Situation, als das höfische Leben auf dem Schloss noch pulsierte.“. Doch das ist schon verdammt lange Vergangenheit.

Denn bereits Ende des 17. Jahrhunderts war die Herrlichkeit im Heidelberger Schloss eigentlich vorbei: Soldaten Ludwigs XIV. hatten im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 die Residenz der Kurfürsten besetzt, und französische Pioniere sprengten 1693 die Gebäude. 1764 schlug dann auch noch ein gewaltiger Blitz in die halb verfallene Anlage ein – ein schlechtes Omen, wie die Heidelberger fanden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es Überlegungen, das Schloss wieder aufzubauen.

Anlage

Das Schloss wird zum Steinbruch

Umso erstaunlicher ist der Mythos, der in der Neuzeit Millionen Touristen an diesen Ort der Unvollendung bringt. Einen Ort, der allerdings auch wie kaum ein anderer in Mitteleuropa für deutsche Kultur steht.

Trotzdem: Die Bedeutungsgeschichte wird immer grotesker, wenn wir bedenken, dass das Schloss eigentlich niemals eine wehrhafte Funktion hatte, sondern anfangs nur untergeordnete Aufgaben erfüllte. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die eine der ursprünglich zwei Burgen auf der Anhöhe zwar zur Festung ausgebaut. Doch schon im 16. Jahrhundert entstanden einzelne Wohngebäude, in die bald Handwerker einzogen. Unter Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz (1724–1799) verlor die Residenz endgültig ihre Bedeutung und wurde regelrecht abgewrackt: 1767 hatte man begonnen, die Quader des Südwalls als Baumaterial für das Schwetzinger Schloss zu verwenden. Ab 1784 wurden Gebäude sogar als Steinbruch genutzt. Die folgenden Jahrzehnte holten sich Heidelberger Bürger aus dem Schloss Steine, Holz und Eisen zum Bau ihrer Häuser. Auch Figuren und Ornamente wurden abgeschlagen. Aber die politische Großwetterlage änderte sich irgendwann grundlegend. Das zerstörte Schloss wurde zum Sinnbild einer patriotischen Gesinnung, nämlich gegen die napoleonische Unterdrückung. Nach dem Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Reichs 1871 sollte die nationale Größe Deutschlands auch in seinen mächtigen Bauwerken sichtbar werden. Das durch die Franzosen zerstörte Schloss Heidelberg bot sich nach Ansicht vieler Zeitgenossen als Nationaldenkmal an. Der Wiederaufbau wurde beschlossen.

Das zweite Moment war die Begeisterung für das Romantische, und zwar universell. Zum Fürsprecher für den Erhalt des Schlosses wurde der damals sehr populäre Dramatiker und Publizist August von Kotzebue. Viele Maler und Zeichner lieferten entsprechendes „Begleitmaterial“: Wesentlich waren es die Gemälde des Engländers William Turner, der sich zwischen 1817 und 1844 mehrfach in Heidelberg aufhielt. Wie andere Maler auch, pflegte er einen eher freien Umgang mit der Realität. So ist bei seinen Gemälden des Schlosses das Gelände mehrfach überhöht dargestellt. Andere Landschaftsmaler machten die Schlossüberreste zum zentralen Motiv ihrer Bilder, in denen häufig das Anmutige der umgebenden Landschaft in Kontrast gestellt wurde zum Feierlich-Düsteren der Ruine.

Romantik empfand man damals als eine Universalpoesie: Allen Künsten wohne ein verklärendes sentimentales Gefühl der Sehnsucht inne, glaubte man. Es gab sogar eine Form der „Heidelberger Romantik“, die Liedermacher wie Achim von Arnim und Clemens Brentano pflegten, die sich oft in Heidelberg aufhielten.

Gemäldegalerie

Ein Grafiker als Schlossretter

Zum wirklichen Retter der Gebäude wurde dann aber der französische Zeichner und Kupferstecher Charles de Graimberg. Er machte sich sogar zum selbst ernannten Schlosswächter: Der Graf wohnte bis 1822 in einem kleinen Raum, von dem aus er den Schlosshof am besten einsehen konnte. Auch um mögliche „Zerstörer“ schnell auszumachen und abzuhalten. Lange bevor es in Deutschland eine Denkmalpflege gab, war er einer der Ersten, die sich um den Erhalt und die Dokumentation historischer Gebäude kümmerten. Bei all der romantischen Schwärmerei dachte nämlich sonst noch niemand daran, den Verfall des Schlosses zu verhindern. Graimberg dagegen ließ den ersten Schlossführer in Buchform verfassen. Mit seinen in hoher Auflage produzierten Grafiken verhalf er der Ruine zu einem Bekanntheitsgrad, der den Fremdenverkehr stärkte. Graimbergs Zeichnungen wurden praktisch zu Vorläufern der Postkarte. Zur gleichen Zeit gab es auch schon das Schloss als Souvenir auf Tassen. Den entscheidenden Schub erhielt der Tourismus aber erst mit dem Anschluss Heidelbergs ans Eisenbahnnetz im Jahr 1840.

Und das brachte später besonders viele US-Touristen hierher. Deren literarischer Touristenführer war kein Geringerer als Mark Twain: In seinem Buch „Bummel durch Europa“ beschreibt er 1878 das Schloss so: „Um gut zu wirken, muss eine Ruine den richtigen Standort haben. Diese hier hätte nicht günstiger gelegen sein können. Sie steht auf einer die Umgebung beherrschenden Höhe, sie ist in grünen Wäldern verborgen, um sie herum gibt es keinen ebenen Grund, sondern im Gegenteil bewaldete Terrassen, man blickt durch glänzende Blätter in tiefe Klüfte und Abgründe hinab, wo Dämmer herrscht und die Sonne nicht eindringen kann. Die Natur versteht es, eine Ruine zu schmücken, um die beste Wirkung zu erzielen.“

Konservieren nicht Restaurieren

Die neue Popularität der Anlage entfachte aber auch wieder die Frage nach einer vollständigen Erneuerung. Diese Debatte unter Architekten und Ingenieuren ging als „Heidelberger Schlossstreit“ in die Geschichte ein. Fazit dieser vielen Diskussionen war der berühmte Grundsatz der Denkmalpflege: „Konservieren, nicht restaurieren!“ Alle Gebäude – außer dem Friedrichsbau – wurden entsprechend lediglich in ihrem Bestand gesichert. Bauherr war von 1897 bis 1900 der Architekt Carl Schäfer – ausgestattet mit dem enormen Budget von 520 000 Mark. Heute wären das 3 600 000 Euro. Schäfer ließ die Fassade restaurieren und ersetzte ihre Skulpturen durch Kopien. Die Innenräume erhielten fantasievolle Stuckdecken und Türgewände im Stil der Neorenaissance.

Im 20. Jahrhundert brachte der Heidelberg-Mythos immer mehr ausländische Touristen in die Region, für ihre Kurzreisen durch Europa wurde Heidelberg zum wichtigen Zwischenstopp. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kamen jährlich mehr als eine Million Besucher. Wichtigster Anlaufpunkt ist laut einer Befragung des Geographischen Instituts der Universität Heidelberg immer noch das Schloss.

Gästeführerin Christiane Berger Waldenegg wundert das nicht. „Gerade das Unfertige, der Raum zur mystischen Verklärung, scheint ganz viele Menschen anzuziehen.“ Die Begeisterung der Besucher geht auf jeden Fall so weit, dass Christiane ganz viele der Touristen dazu bringt, inmitten der Schlossanlage mit ihr den Hofknicks der Höflinge wie im 17. Jahrhundert zu üben. Quasi eine Verbeugung vor der historischen Dimension.