Schulz

IN PUTINS GEISELHAFT

Das aggressive russische Handeln, der Krieg gegen die Ukraine und die ultimativen Forderungen an den Westen aus Moskau ändern fundamental die europäische Friedensordnung. Warum handelt Putin so? Und was will er letztlich?

Der Russland-Experte und ehemalige Botschafter in Moskau, Rüdiger Freiherr v. Fritsch-Seerhausen, nennt die Hintergründe

Wie aus dem Nichts schien sich die internationale Krise zu entwickeln. Ende 2021 häufen sich die Berichte über einen russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. Damit nicht genug: Kurze Zeit später legt die russische Führung nach. Und es wird deutlich, dass die Drohung gegen die Ukraine nur ein Vehikel war, um die europäische Friedensordnung insgesamt infrage zu stellen. Ultimative Forderungen werden auf den Tisch gelegt und dann erfolgt der Angriff auf die Ukraine. Wie erklärt sich dieses plötzliche Ausgreifen Russlands?

Bedroht die NATO Russland?

Wladimir Putin sagt, Russland fühle sich bedroht – plötzlich. Von einer internationalen Ordnung, die seit Jahrzehnten den Frieden in Europa zuverlässig garantiert und die sie selbst mit verhandelt, verabredet und unterschrieben hat – einschließlich des Rechts jeden Staates, frei zu bestimmen, wie er seine Sicherheit gewährleistet und dafür einem Bündnis beizutreten. An den Eckpfeilern dieser Ordnung hat sich seit 2008 nichts geändert: Damals eröff nete die NATO Georgien und der Ukraine eine Beitrittsperspektive, die jedoch ad calendas Graecas vertagt wurde. Das weiß man in Moskau natürlich genau. Genauso, wie man sehr gut weiß, dass nie vereinbart worden ist, die NATO nicht auszuweiten. Es sei ein „Mythos“, dass der Westen solches versprochen habe – hat jemand treff end festgestellt, der es wirklich wissen muss: Michail Gorbatschow. Im Rückblick auf die oft zitierten Gespräche im Jahr 1990 über die Herstellung der deutschen Einheit hat er in einem Interview 2014 hinzugefügt: „Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht.“ Und als 2004 erneut Staaten aus Ostmitteleuropa der NATO beitraten, hat Wladimir Putin festgestellt: „Jedes Land sollte das Bündnis wählen, das ihm für seine Sicherheit am besten geeignet erscheint.“ Das erste Militärbündnis, das sich nach Ende des Kalten Krieges in Europa ausweitete, war im Übrigen der von Russland dominierte „Vertrag über die kollektive Sicherheit“ – 1992 mit dem Beitritt von Belarus. Doch nun behauptet Wladimir Putin, Russland sei von einem bevorstehenden NATO-Beitritt der Ukraine bedroht – der, wie Bundeskanzler Scholz zu Recht festgestellt hat, eben „überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht“. Warum also diese plötzliche, gefährliche Bedrohung der internationalen Lage durch die Moskauer Führung?

Die Angst vor dem schwarzen Schwan

Hinter dem aggressiven russischen Vorgehen steht nicht zuletzt die Einsicht des Kreml in zunehmende eigene Schwäche, gepaart mit dem Unvermögen, seine Position anders als durch die Drohung mit Gewalt zu verbessern. Konstruktive Vorschläge auf diplomatischen Konferenzen waren noch nie eine Stärke der sowjetischen oder russischen Diplomatie. Längst wird das Weltgeschehen nicht mehr zwischen Moskau und Washington verhandelt, sondern zwischen Washington und Peking. Und Russland steht am Rande. Der demonstrative Schulterschluss der Präsidenten Xi und Putin in Peking während der Olympischen Spiele darf über fundamentale Gegensätze nicht hinwegtäuschen: Bis heute hat China die Annexion der Krim nicht anerkannt, und Peking hat betont, dass das Recht auf territoriale Integrität auch für die Ukraine gelte. Dieses Russland ist am Ende ein Koloss auf tönernen Füßen. Reich, potenziell ungeheuer reich – das einzige Land der Erde, dass jeden Rohstoff in ausreichender Menge hat, sich selbst zu versorgen, finanziell solide aufgestellt. Reich an Land, an einer gut ausgebildeten Bevölkerung, an großartigen kulturellen Traditionen. Stark an militärischer Macht. Und arm an Zukunft. Mit einem Wirtschaftsmodell, das im übergroßen Maß auf den Verkauf jener fossilen Energieträger setzt, Öl und Gas, die der Westen in absehbarer Zeit so nicht mehr benötigen wird. Dem es nicht gelingt, trotz aller beharrlichen Forderungen, selbst des Präsidenten, die großen strukturellen Defizite zu beseitigen, die es wie Gulliver an den Boden binden: Bürokratie und Korruption, abschreckende Bedingungen für ausländische Investoren – und eben die kleptokratischen Interessen einer kleinen Gruppe an der Spitze. Seit Jahren gehen die realen Einkünfte der Menschen zurück, seit Jahren wächst die Zahl der Superreichen und deren Vermögen. Doch sollte sich gegen die vielerlei Missstände in der Bevölkerung Unmut regen, muss dieser vom Ausland angestiftet sein. Da zeigt er sich, der blinde Fleck geheimdienstlichen Denkens, der die Analysen in Moskau oder Minsk prägt: Alles ist von Verschwörungen gegen die eigene Herrschaft bestimmt. Regt sich Widerstand, so sind dies eben „ausländische Agenten“. Gegen die gilt es, entschlossen vorzugehen, repressiv und mit allen Tricks aus dem sowjetischen Instrumentenkasten. Kaum etwas fürchtet man in Moskau mehr als den plötzlichen „Angriff aus dem Dunkeln“, aufflammenden – beziehungsweise: „vom Ausland angeheizten“ – Volkszorn. Aufstände wie in Belarus 2020 oder in Kasachstan 2022: Das sind die Wetterleuchten, die in Moskau umso heller aufscheinen, je drängender sich die Frage stellt, wie es eines Tages auch in Russland weitergehen könnte. Doch eine Zukunft, in der Wandel möglich wäre, ist eben ausdrücklich nicht geplant. Dafür hat der Präsident extra noch einmal die Verfassung ändern lassen – entweder um die eigene Herrschaft zu perpetuieren oder doch zumindest das Modell dieser Herrschaft. Und unterdes ziehen China, die USA aber auch der Westen Europas wirtschaftlich und technologisch davon. Nicht, dass es in Russland nicht auch wirtschaftliche Erfolgsgeschichten gäbe, Ausbau der Infrastruktur oder wichtige Erfindungen. Doch der eigene Fortschritt reicht nicht, um mit dem Rest der Welt Schritt zu halten.

Zurück ins 19. Jahrhundert

Also gilt es, beizeiten die eigene internationale Position zu konsolidieren und soweit möglich zu arrondieren. Dazu legt man am besten einen Sicherheitsgürtel um sich, um die behauptete Bedrohung durch die NATO zu verhindern. Zugleich mangelt es an der Einsicht, dass die eigentliche, sehr reale Herausforderung für Russland nicht die NATO ist, sondern die EU, dass es innovativer Fortschritt und ein freiheitliches Welthandelssystem sind. Jeder der Staaten, die vor 30 Jahren noch unter sowjetischem Kuratel standen und heute der EU angehören, steht wirtschaftlich weit besser da als Russland. Aber Perzeption ist Realität, und wir müssen damit umgehen. Wladimir Putin macht außerdem deutlich, wie sehr er darunter leidet, dass das alte russische Reich mit dem Ende der Sowjetunion endgültig in den Orkus der Geschichte gestürzt wurde. Dennoch möchte er dies Reich wieder herstellen. Oder zumindest Teile davon. Denn seinem Wunsch sind Grenzen gezogen. „Russland wird mehr und mehr zum unbezahlten Wachmann in der zentralasiatischen Firma, in der China Geld verdient“ hat ein russischer Experte es einmal für jene früher sowjetische Region auf den Punkt gebracht. Russlands eigentliche Herausforderung ist mittel- und längerfristig gar nicht der Westen – es ist China, nach der EU die bald zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Und die Volkswirtschaft Russlands ist kleiner als die Italiens. Gelingt es nicht, das alte russische Reich wieder herzustellen, so will man zumindest zu einer Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück. Die „Großen“ setzen sich zusammen und verhandeln zu Lasten der „Kleinen“ die internationale Ordnung. Hier liegt das eigentliche Problem: Putin will zurück an den Tisch von Jalta, an dem Stalin, Churchill und Roosevelt 1945 die europäische Nachkriegsordnung verabredeten. Moskaus gegenwärtige Forderungen wirken daher fast verzweifelt: „Der Westen“ soll versprechen, sich selbst zu schwächen, um Russlands Sicherheit zu garantieren. Die Ukraine – auch Finnland und Schweden, Österreich, Moldau, die Balkanstaaten! – sollen auf ewig die Pufferzone zwischen den Machtblöcken bleiben. Der Rest Europas soll sich militärisch entblößen: Keine NATO-Verbände in östlichen Mitgliedsstaaten – 6500 estnischen stünden eine Million russischer Soldaten gegenüber. Und die USA sollen ihren nuklearen Schutzschirm über Westeuropa zurückziehen – Herzstück auch unserer nationalen Sicherheit. Natürlich war das auch Kalkül. Der Kreml setzte genau darauf, dass der Westen seine überzogenen Forderungen gar nicht erfüllen kann, um dann „leider“ in der Ukraine eingreifen zu müssen. Doch der russische Präsident wartet die vom Westen eingeleiteten Verhandlungen nicht einmal ab, er greift die Ukraine an und zerstört damit die Aussichten, seine weiterreichenden Ziele zu erreichen. Hier offenbart sich, wie sehr die ganze Entwicklung von den Obsessionen und fehlgeleiteten Wahrnehmungen eines Mannes an der Spitze abhängt. Zu sowjetischen Zeiten gab es wenigstens noch ein ZK und ein Politbüro, die den Generalsekretär der KPdSU kontrollierten. Nichts mehr davon, der Nationale Sicherheitsrat, den Putin einberuft, wird zu einer Versammlung von Schulbuben und Claqueuren. Niemand kann ausschließen, dass es zu weiteren Schritten kommt. Es gehört zur Tradition sowjetischer und russischer Außenpolitik, die andere Seite über die eigenen Absichten raunend im Dunkeln zu lassen und sich möglichst viele Optionen offenzuhalten.

Wie reagieren?

Wer Gewalt anwendet oder mit ihr droht, ist naturgemäß immer in einer stärkeren Position, zumal wenn er darauf setzen kann, dass die andere Seite – vernünftigerweise – nicht vergleichbar reagieren wird. Doch wir sind nicht wehrlos, und der Westen hatte bemerkenswert gut reagiert – bis die Verweigerung des Gesprächs durch Moskau einer friedlichen Lösung Grenzen zog. Entschlossene wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen, die Selbstvergewisserung von EU und NATO waren dann die richtige Antwort. Wer Sanktionen für falsch hält, sollte sich einmal vor Augen führen, was es bedeutet hätte, wir hätten 2014 gar nicht reagiert. Moskau hätte dies als Ermunterung verstanden. Sanktionen zielen überdies nicht allein darauf, eine Situation zu ändern, sondern auch darauf, Weiterungen zu verhindern. Genau darum geht es auch heute wieder. Selbst in einer solchen Situation muss Diplomatie bereit zum Gespräch bleiben – ohne dem anderen sinnlos hinterherzulaufen oder naiv über die Möglichkeiten des Dialogs zu sein. Bereit zum Gespräch über bestehende Konflikte und ihre mögliche Lösung, aber eben auch über jene anderen großen Herausforderungen, die auch Russland nicht allein lösen kann: Klimawandel und Migration, Pandemien und Terro rismus. Sprechen sollte man über die europäische Sicherheit, über Rüstungskontrolle, Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen – so schwer das mit einem Partner ist, der die europäische Ordnung mit militärischer Aggression infrage stellt und dessen Truppen in drei europäischen Staaten stehen: in der Republik Moldau, in der Ukraine und in Georgien. Doch der Westen hat alle Wege aktiviert, die geeignet sind, sich zu verständigen: den bilateralen Austausch, den NATO-Russland-Rat, die OSZE, das Normandie-Format. Entschlossenheit setzt Prinzipienfestigkeit voraus – und es verlangt von uns auch die Bereitschaft, eigene Nachteile in Kauf zu nehmen. Unsere Reaktion und russische Sanktionsschritte werden uns vor enorme Schwierigkeiten stellen. Die Bereitschaft, auf die erneute russische militärische Aggression mit einer massiven Beeinträchtigung der russischen wirtschaftlichen Interessen zu antworten, bleibt die richtige Wahl. Die russische Führung hat Reserven, doch sie ist auf die Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas entscheidend angewiesen. Das ist ihre selbst gemachte Achillesferse. Sie braucht das Geld, um die Lage im Lande und andernorts – wie in Belarus – unter Kontrolle zu halten. Eine klare und entschiedene Politik sollte zugleich beharrlich an einem Signal gegenüber der russischen Führung festhalten: Ein auskömmliches Miteinander zwischen Russland und dem Westen wäre die beste Option für eine gedeihliche Zukunft auch Russlands. China ist für Russland die längerfristig viel schwierigere Wahl. Peking mag derzeit noch ein attraktiver strategischer Partner für Moskau sein – doch auch in Moskau wächst die Einsicht, dass man dabei immer mehr zum Juniorpartner wird. Und wenn der Kreml eines fürchtet, dann ist es, freundschaftlich so fest umarmt zu werden, dass einem die Luft wegbleibt. Es ist an Wladimir Putin, darüber zu entscheiden – oder an jemanden, der ihm in Russland in den Arm fällt Was wir jetzt vor allem brauchen, ist Prinzipienfestigkeit und den weiten Blick. Und europäische Handlungsfähigkeit. Diplomatie muss immer darauf setzen, dass sich in Zukunft Chancen ergeben und Lösungen eröffnen, die sich derzeit nur in blassen Konturen abzeichnen, mögen die Zeiten auch noch so schwierig sein. Weder ist ausgemacht, dass Chinas Weg auf Dauer erfolgreich ist, noch dass Russland sich nicht wandelt. Wir müssen an der Zuversicht festhalten, dass die Zukunft besser aussehen könnte, als die sehr begrenzte Einsicht der Gegenwart uns dies vermuten lässt.