Schulz

Was ist gerecht?

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in diesem Frühjahr haben es gezeigt: Der Bürger hat ein anderes, austarierteres Verhältnis zum Begriff der „Gerechtigkeit“ als die SPD.

Von Albrecht Prinz v. Croÿ

Eine Partei kann nicht aus ihrer Haut. Die Ergebnisse der zurückliegenden Landtagswahlen sind für die SPD nicht nur verheerend, sondern zeigen vor allem die Gefangenschaft in ihrer alten Klassenkampfrhetorik. „Soziale Gerechtigkeit“ sollte der Schlager des furios gestarteten Kanzlerkandidaten Schulz sein. „Mehr Gerechtigkeit für alle“ ließ der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Torsten Albig, auf seine Wahlplakate schreiben. Die sich seit Jahren als Kümmerin inszenierende Landesmutter von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, machte einen Wohlfühlwahlkampf, durchdrungen von ihrem Bekenntnis, „kein Kind zurückzulassen“. Bilanz: zwei krachend gescheiterte Ministerpräsidenten und ein Kanzlerkandidat, dessen künstlicher Medienhype zusammengefallen ist wie ein Soufflé, der brutal auf das Normalmaß zurechtgestutzt wurde. In nahezu allen Analysen der Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen lässt sich der Grund dafür unschwer nachvollziehen: die falschen Themen. Die SPD vertraute auf ihr altes Rezept, wonach die Schwächeren und Zukurzgekommenen noch immer bei ihr das Kreuzchen machen: SPD steht für „soziale Gerechtigkeit“ – ganz egal, was dieser Begriff heute eigentlich aussagt.

Der Wähler des Jahres 2017 hat aber andere Themen, er hat vor allem andere Befindlichkeiten. Er will Sicherheit, er will eine anständige Bildungsinfrastruktur, er will aber auch die Freiheit, sein Leben selbst zu gestalten. Wenn gleichzeitig die Grünen als Inkarnation von Belehrung und Bevormundung sowohl am Rhein wie auch in Umfragen bundesweit dramatisch abfallen, so vor allem deswegen. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist die ewige Leier von Ge und Verboten überdrüssig. Denn mit den Jahren hat sich zunehmend eine Erkenntnis durchgesetzt: Wer immerzu von „sozialer Gerechtigkeit“ redet, kleidet sich in den Schafspelz des kümmernden, besorgten, „vorsorgenden“ Gutmenschen. Der Wolf darin will mehr: Kontrolle, Zugang, Überwachung und Zwangsbeglückung.

Es bedurfte also nicht einmal unbedingt des steilen Aufstiegs der FDP, um einem anderen Begriff eine Renaissance zu verschaffen: Freiheit. Mehr als es den etatistischen Gralshütern (die diesen „Switch“ vor lauter Gerechtigkeitsbesoffenheit offenbar nicht mitbekommen haben) recht sein wird, dämmert den Deutschen, dass eine wirklich freie Gesellschaft nicht ebenso gerecht sein kann, weil der vermeintliche Idealzustand der absoluten Gerechtigkeit immer in Unfreiheit mündet. Die Kunst, die in Deutschland schon lange verlustig gegangen war und vielleicht jetzt ein zartes Comeback feiert, ist eine Balance aus beidem. Eine Gesellschaft, die die Selbstbestimmung ebenso betont wie die Selbstverantwortung, ist im besten Sinne des Wortes so frei, die Schwächeren nicht zurückzulassen. Sie tariert aus, wo Übertreibungen sind, sie gleicht aus, wo das System Ungerechtigkeiten schafft, sie animiert, wo Antriebslosigkeit ist, sie fördert, wo Talent ist, aber keine Mittel sind. Der Staat steht nicht im Weg, sondern schafft Rahmenbedingungen, die eine solch organisierte Gesellschaft möglich machen. Mehr soll er nicht in einem wirklich freiheitlichen Gebilde, mehr kann er aber auch nicht. Der Staat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Staat.Es hat sich im vergangenen Jahrzehnt eine fatale Unsitte in Deutschland, aber auch in den westlichen Demokratien eingeschlichen, die der chinesische Kolumnist Zhong Sheng schon 2013 beschrieb:

Die Politik würde immer neue Wohlfahrtsversprechen abgeben, um vor Wahlen Stimmen gleichsam zu kaufen, die danach am Kapitalmarkt über Schulden finanziert werden müssten. Dadurch hätten sich die Staaten des Westens in die Abhängigkeit der Finanzmärkte begeben. Statt Verantwortung und eines „Bewusstseins fürs große Bild“ regierten „Populismus und Konservativismus“ und gefährdeten die gesamte Weltwirtschaft.

Eine steile These, die nach Beweisen ruft. Der Kampfbegriff „soziale Gerechtigkeit“ ist seit jeher ein gigantisches Kostensteigerungsprogramm für Sozialausgaben gewesen. Seit Jahren steigen die Beiträge für Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 888,2 Milliarden Euro in sozialpolitische Zwecke gelenkt. Das waren 38,4 Milliarden Euro oder 4,5 Prozent mehr als im Jahr 2014. Innerhalb der vergangenen fünf Jahre haben sich die Ausgaben damit sogar um insgesamt mehr als 100 Milliarden Euro erhöht. Ein Bürokratiemonster – geschaffen durch das Mantra der „sozialen Gerechtigkeit“. Politiker haben immer weitere „Ansprüche“ auf Seiten der Bevölkerung geweckt, denen sie dann im Kampf um Wählerstimmen nachgeben. Liegt der chinesische Journalist so falsch?

Und dieses System ist ein Perpetuum mobile. Je mehr Bedarfe geweckt werden, desto mehr müssen auch befriedigt werden. Umso mehr Geld aber verschlingt dieser fatale Kreislauf. Und also muss der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ moralisch derart überhöht werden, dass jede Kritik daran in den Geruch der Kälte und des Manchester-Kapitalismus geraten muss. „Der Staat muss so ausgestattet sein, dass er die Anforderungen nach Gerechtigkeit bedienen kann.“ Muss er das? Und wie gerecht ist das eigentlich?

Seit 2013 nimmt der Staat jährlich 100 Milliarden Euro mehr ein, allein im vergangenen Jahr sparte der deutsche Staat durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) 47 Milliarden Euro. Und seit der Finanzkrise 2009 haben Bund und Länder insgesamt sogar 240 Milliarden Euro gespart. Laut der OECD-Studie „Taxing Wages 2017“ aus dem April lag die Abgabenlast auf das Einkommen eines deutschen Durchschnittsverdieners 2016 bei 49,4 Prozent. Nur in Belgien war die Belastung noch höher. In allen anderen Industrieländern ist die Abgabenlast niedriger. Dabei wurden bestimmte Belastungen (etwa die Stromumlagen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz) bei der OECD nicht einmal mitgerechnet.

Was der Staat eingenommen und eingespart hat, fehlt jedoch den Bürgern an Zinserträgen, die sie auf ihren Bankkonten nicht mehr erzielen. Und es fehlt den Bürgern bei Lebens- und Rentenversicherungen, weil die institutionellen Investoren – so wie der Privatmann – mit Anleihen kaum noch Zinserträge erzielen. Wie gerecht, ihr Gerechtigkeitsfetischisten, ist das denn? Gerecht wäre es, wenn der Staat dieses Geld, solange die Niedrigzinsphase andauert, den Bürgern zurückgäbe. Meinetwegen gedrittelt: ein Drittel direkt durch Steuersenkungen, ein Drittel zur Schuldentilgung und ein Drittel für die dringend erforderlichen Infrastrukturinvestitionen.

Wie gerecht ist ein Staatsverständnis, dass die öffentliche Hand als gnädigen Geber stilisiert, der nach Gutdünken, trotz Milliardenüberschüssen und munter sprudelnder Steuereinnahmen, über das Geld seiner Bürger entscheidet? Die Bürger zahlen Steuern, um dem Staat seine ureigenen Aufgaben zu ermöglichen. Dazu gehören vor allem das Gewaltmonopol, die Herstellung der öffentlichen Ordnung, der Schutz vor Mord und Diebstahl, die Errichtung und Pflege der Infrastruktur sowie der Aufbau und die Instandhaltung einer zukunftsweisenden Bildungslandschaft. Nicht dazu gehören die einseitige Bevorzugung bestimmter Bevölkerungs- und Einkommensgruppen, aus denen sich am ehesten treue Wähler rekrutieren lassen. Liegt der chinesische Journalist so falsch?

Den Vogel in Sachen wirres Verständnis von Volk und Staat schießt einmal wieder der oberste Kassenwart, Finanzminister Wolfgang Schäuble, ab. In einem Interview versteigt er sich zu folgender Aussage: „Das Bundesverfassungsgericht hat mal das Prinzip verfochten, mindestens 50 Prozent sollte jeder behalten dürfen. Juristisch finde ich das nicht zwingend.“ Die Leute sollten wissen, „dass Geld nicht alles ist und dass viel Geld zugleich viel Verantwortung bedeutet“. Geht es noch zynischer? Weil viel Geld zugleich viel Verantwortung bedeutet, darf man es dem Bürger gar nicht erst wieder zurückgeben, er kann ja im Zweifel doch nicht damit umgehen. Seid unbesorgt, ihr Bürgersleut, zahlt nur eure völlig überzogenen Steuersätze, der gute Wolfgang weiß schon, was gut für euch ist! Gemäß diesem onkelhaften Gehabe sollte es auch nicht weiter wundern, dass sich Schäuble gerade mal darauf verständigen kann, die Bürger ab dem Jahr 2018 mit einer Entlastung von 15 Milliarden Euro zu beglücken, schließlich ist ja Wahlkampf. Aber am liebsten hätte er es natürlich „gegenfinanziert“. Und flugs ist zu diesem Behufe, weil das ja so gerecht ist, wieder die Hatz auf die „Reichen“, auf die Vermögenden, auf die Millionäre eröffnet. Es ist ein wenig wie die gute alte Gebetsmühle, immer wieder darauf hinzuweisen, dass diese Gruppe schon lange den Hauptanteil der Steuerlast trägt. Laut Statistik des Bundesfinanzministeriums zahlen die oberen 1 Prozent der Steuerpflichtigen 22,2 Prozent der Einkommensteuer, obwohl ihr Anteil am Gesamtbetrag der Einkünfte lediglich bei 11,6 Prozent liegt. Dagegen zahlen 50 Prozent der Steuerpflichtigen nur 5,5 Prozent der Einkommensteuern, bekommen jedoch Transferleistungen, die von den stets gescholtenen „Besserverdienern“ gezahlt werden.

Nach den Wahlen dieses Frühjahrs bleibt eine Hoffnung: dass die Bürger eher Freiheit wählen als weiter dieses krude Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Es bleibt die Hoffnung, dass sich die Politik mit wirklichen Ungerechtigkeiten beschäftigt, s. o. Und dazu gern ein paar weitere Anregungen: Wahrlich himmelschreiendes Unrecht sind die Zustände in der Pflege und der Versorgung unserer alten Menschen. Hier arbeiten Krankenschwestern und -pfleger teilweise unter grenzwertigen Umständen, ihre Entlohnung entspricht in keiner Weise der dort geleisteten Arbeit. Es ist wahrlich zutiefst ungerecht, dass sich eine normale vierköpfige Familie in Ballungsräumen keine adäquate Wohnung mehr leisten kann. Es ist angesichts der prallen Kassen der öffentlichen Hand wahrlich der Gipfel der Ungerechtigkeit, dass Eltern von staatlichen Schulen aufgefordert werden, am Wochenende Klassenräume zu streichen und Sanitäranlagen zu reparieren. Und zu guter Letzt: Es ist wahrlich ungerecht, dass angesichts der überquellenden Steuereinnahmen noch immer der Zustand unserer Straßen, Brücken und Schienen jeder Beschreibung spottet.

Wenn die alte Gerechtigkeitspartei SPD überhaupt noch eine Daseinsberechtigung hat, nimmt sie sich dieser Themen an, verzichtet auf ihre aus der Zeit gefallene Sozialneiddebatte und redet über das, was den Menschen wahrlich auf der Seele liegt.

Das wäre dann mal wirklich gerecht, Herr Schulz!