Kinis Traum vom Orient
Außen schlicht, innen wie aus 1001 Nacht: In Schloss Linderhof lebte König Ludwig II. (bayerisch: Kini) – fast allein. Heute besuchen den Lieblingsort des bayerischen Monarchen Hunderttausende.
Von Christian Personn
Die Faszination für das Exotische. Gerade in unsicheren Zeiten träumen die Menschen gerne von Paradiesen. Diese Sehnsucht nach dem Fernen und Unbekannten war schon Ende des 19. Jahrhunderts Zeitgeist – und auch der Märchenkönig, Ludwig II. von Bayern, schwelgte gerne von solchen Sehnsuchtsorten. Mit dem kleinen Unterschied, dass der „Kini“ – wie er später genannt wurde – die reine Imagination nicht genügte. Und er war so reich, dass er diese Orte durch exotische Bauten wahr werden lassen konnte.
Mit 18 Jahren saß er schon auf dem Königsthron, musste aber nach dem verlorenen Krieg gegen das expandierende Preußen 1866 einen Teil seiner Souveränität abtreten. Seitdem war Bayern außenpolitisch von Preußen abhängig und sein König nur noch ein „Vasall“ seines preußischen Onkels. Diesen Machtverlust empfand er als das Unglück seines Lebens. Also begann Ludwig, sich fernab seiner Residenzstadt München eine Gegenwelt aufzubauen, in der er als konstitutioneller König von Bayern wie ein „wirklicher König“ leben konnte: als König wie im Mittelalter in Schloss Neuschwanstein und als absolutistischer König in den Schlössern Linderhof und Herrenchiemsee.
Ludwig II. war durchdrungen von der Idee eines heiligen Königtums von Gottes Gnaden. In der Realität besaß er aber als Staatsoberhaupt mit Rechten und Pflichten wenig Spielräume.
Die Weltausstellung als Inspirationsquelle
Illusionistische Licht- und Bildtechniken galten im 19. Jahrhundert als beliebtes Stilmittel adeliger Bauherren. Der wissbegierige Ludwig begeisterte sich besonders für „künstliche Paradiese“. Mit dem auf der Pariser Weltausstellung von 1867 eingeführten Ausstellungskonzepts der Länderpavillons wurde es zum beliebten Stilmittel, landestypische Kultur spektakulär für Besucher zu inszenieren. Ludwig II. zeigte sich bei seinem Besuch in Paris schwer beeindruckt gerade von technisch anspruchsvollen Simulationen. Seine obsessive Leselust verhalf ihm dabei wesentlich zur „Verbildlichung“ dieser ambitionierten Visionen, die er dann im Rahmen eines aufwendigen Ideenprozesses verwirklichte.
Konkret setze er die Reisethemen an seinem Lieblingsort um, dem Graswangtal in der Nähe von Oberammergau – mit dem Schloss und Park Linderhof. Dort wollte er seine fernen Welten erlebbar machen. Und so kaufte er den Weltausstellungen zwei Pavillons für den Park ab – den Maurischen Kiosk und das Marokkanische Haus – und ließ diese nach seinen Ideen umbauen, wodurch sie noch „fantastischer“ wirken sollten. Die beiden Pavillons, als zwei der wenigen überhaupt erhaltenen Weltausstellungsbauten dieser Zeit, ermöglichten es ihm, die orientalische Welt durch inszenierte Spezialeffekte (Farbbeleuchtung, Gerüche, Wasser, Rauch) zu simulieren –und in diese selbst einzutauchen.
Schloss Linderhof folgt dem Typus des „Lustschlosses“, der im 18. Jahrhundert in Frankreich en vogue war und bald in ganz Europa in den Schlossparks gebaut wurde. Die prachtvolle Ausstattung ist eine Mischung aus dem französischen, aber auch dem bayerischen Rokoko. Ludwig erschuf hier jedoch keineswegs eine Kopie von Vorbildern, sondern etwas Neues, Eigenes. Geschickt machte er sich optische Täuschungen zunutze und ließ z. B. Räume durch Spiegel größer wirken. Selbst für einen Monarchen sind die erlesenen Gebäude höchst aufwendig möbliert, die kunsthandwerkliche Qualität gilt als spektakulär. Schloss Linderhof ist übrigens der einzige größere Bau, den der König vollendet erlebte.
Ludwig II. hatte sich im Laufe der Jahre zu einem Einzelgänger entwickelt. Auch das viel bewunderte „Tischleindeckdich“ im Speisesaal von Linderhof belegt, wie sehr der Monarch die Einsamkeit schätzte. Dieser ungewöhnliche „Speisenaufzug“ konnte direkt in der Küche gedeckt werden und fuhr dann, über eine Lucke im Boden, zurück in den Speisesaal. So speiste der König ungestört und blickte verzückt auf das Porträt der schönen Madame du Barry. Seit etwa 1875 lebte er nachts und schlief am Tage.
Auch der Park glänzte mit optischen Knallern
Die eindrucksvollen Parkanlagen des Schlosses vereinen Motive des französischen und italienischen Barockgartens und des englischen Landschaftsbaus. Etwas ganz Besonderes sind die Parkbauten, die Ludwigs Begeisterung für die Orientmode widerspiegeln – und auch die Musikdramen Richard Wagners. Die drei im Park errichteten Bühnenbilder Hundinghütte (I. Akt der „Walküre“), Einsiedelei des Gurnemanz (III. Akt des „Parsifal“) und Venusgrotte (I. Akt des „Tannhäuser“) entstammen den Dramen des Komponisten. Jedes Gebäude ist eine kleine Welt für sich.
Die riesige, künstliche Venusgrotte, 1876/77 im Park errichtet, ist technikgeschichtlich überaus interessant. Sie war mit Kohlenstablampen elektrisch beleuchtet, für die 24 Dynamomaschinen den Strom lieferten. Mithilfe von Farbgläsern konnte die Grotte verschiedenfarbig beleuchtet werden. Eine Wellenmaschine bewegt den kleinen künstlichen See, dessen Wasser, wie auch die ganze Grotte, beheizbar war, um eine angenehme Badetemperatur zu erreichen. Die Venusgrotte besteht aus einem gemauerten Kern, auf dem ein Gerüst aus Eisenträgern, Drahtgeflecht und Leinwand die mit Gips geformten „Felsen“ trägt. Modernste Technik verwendete man auch bei den Kutschen und Schlitten, in denen der König sich nachts fortbewegte, gelegentlich im historischen Kostüm.
Die letzte Phase
Gegenüber dem Aufenthalt in den Bergen wurden die in München immer kürzer. Die Gegenwelt blieb dort durch „Separatvorstellungen“ im Hoftheater, Opern- und Schauspiel – oft nur für den König allein – aufrechterhalten. Doch Ludwig entschwand immer mehr in seine fantastischen Welten: Er identifizierte sich mit Parzival, jener mittelalterlichen Sagengestalt, die dank Reinheit und Glauben zum Gralskönig wird. Der innere Kampf um Sündenfreiheit und Reinheit drückt sich in den Tagebüchern des strenggläubigen Mannes erschütternd aus. Richard Wagners letztes Werk „Parsifal“, seit 1877 komponiert, thematisiert diesen Mythos. Wagner und seine Entourage nannten den König intern „Parsifal“; seine psychische Zerrissenheit floss in das Gralsdrama ein.
Allerdings: Ludwigs selbst gewählte „ideal-monarchisch-poetische Einsamkeit“ (wie er das umschrieb) war nicht mehr mit den Pflichten eines Staatsoberhauptes zu vereinbaren. Ebenso wenig konnten die immer neuen Kulissen der Traumwelten selbst mit den privaten Mitteln eines Königs kaum noch finanziert werden. Seit 1885 drohten ausländische Banken mit Pfändung. Der Monarch verweigerte sich vorgeschlagenen Ideen zu seiner finanziellen und psychischen Gesundung. 1886 ließ man ihn deshalb für Unmündigkeit erklären, die Regierung setzte ihn ab – ein Vorgehen, das die bayerische Verfassung nicht vorsah. Ludwig wurde interniert. Einen Tag später kam er zusammen mit dem Psychiater, der das Unmündigkeitsattest verfasst hatte, unter ungeklärten Umständen im Starnberger See ums Leben.
Seine Schlösser, die nie ein Fremder betreten sollte, wurden seit dem Tode Ludwigs II. von mehr als 130 Millionen Menschen besucht. Sie sind steinerne Zeugen der fantastischen Gegenwelt, die sich der König in Abwendung von der Gegenwart errichtete. An dem Versuch der Selbstverwirklichung im Historischen, im Poetischen und im Idealen ist Ludwig II. schließlich gescheitert. Er zog den Tod wohl der Rückkehr in die Wirklichkeit vor.