Coraline de Wurstemberger

Leben zwischen Reben

Zwei Schweizer Geschichts- und Weinfreunde haben sich auf die Suche nach eidgenössischen Familien begeben, deren Vergangenheit und Gegenwart maßgeblich vom Weinbau bestimmt sind.

Von Henrike Freifrau v. Speßhardt

Dem Journalisten Andreas Z’Graggen hat es der Schweizer Adel angetan. Bereits 2018 veröffentlichte er einen monumentalen Buchband zum Thema bei NZZ Libro (Interview Adelsblatt Ausgabe 1/2019) und stieß damit all jenen Eidgenossen vor den Kopf, die bis dato angenommen hatten, die Geschichte der noblen Familien habe sich spätestens seit dem Rütlischwur im Jahr 1291 von alleine erledigt. Weit gefehlt! Gemeinsam mit dem Journalisten und Fotografen Markus Gisler legt Z’Graggen nun einen zweiten Buchklotz von fast drei Kilogramm Gewicht und 400 Seiten vor. In „Wein. Schlösser. Adel.“ beschäftigen beide sich mit den Familien, die ihren Lebensunterhalt als Winzer und Weinmacher bestreiten – und das zum Teil seit 1000 Jahren. Manche noblen Rebbergbesitzer und ihre Produkte sind über internationale Grenzen hinweg bekannt, andere produzieren nur kleine Mengen für den Direktverkauf oder haben Namen und Weinberge verpachtet. Ganze 36 Familien konnten die Journalisten am Ende ausfi ndig machen, sie auf ihren Sitzen besuchen und zu Produkten und Familiengeschichte befragen. Eine kleine Auswahl:

Familie de Wurstemberger

Dieses Weingut im Dorf Montsur-Rolle zwischen Genf und Lausanne ist reine Frauensache. Seit 1649 ist die ehemalige Domaine de Hautecour von Mutter zu Tochter vererbt worden. Und auch die derzeitige Eigentümerin Coraline Marquise de Wurstemberger, aufgewachsen in Paris und Enkelin der einstigen Grande Dame der Domäne, Théodora v. Salis, wird das Gut eines Tages an ihre Tochter Camille weitergeben. Dann allerdings unter neuem Namen. Denn die Domaine ist von ihr, der Mitbegründerin der Vereinigung Schweizer Winzerinnen, stolz auf „Les Dames de Hautecour“ umbenannt worden. Viel ist von den einst in großer Zahl vorhandenen Domaines und dazugehörigen Schlössern der 1858 geadelten Familie in der Region nicht geblieben. Im Château de Vincy im nahen Gilly wohnt heute Stararchitekt Sir Norman Foster, und auch das letzte Familienwesen haben die Brüder Coralines vor Jahren höchstbietend abgestoßen. Geblieben sind drei Hektar verpachteter Weinberg. Aber die Powerfrau gibt nicht auf: Ein Drittel der Reben kauft Coraline de Wurstemberger jährlich vom Pächter ihrer Ländereien zurück und lässt sie zu neun hervorragenden Weinen keltern, rund 10 000 Flaschen im Jahr.
www.damesdehautecour.ch

Montmollin

Familie de Montmollin

Mit ihrer über 50 Hektar großen Domaine im Kanton Neuenburg besitzt die Familie de Montmollin das größte Biogut der Schweiz. Seit 2017 bewirtschaften die Geschwister Rachel Billeterde Montmollin und Benoît de Montmollin die Fläche in vierter Generation und produzieren 250 000 bis 300 000 Liter pro Jahr, vor allem Pinot noir und Chasselas. Gespritzt wird ausschließlich mit selbst gebrauten, pflanzlichen Mitteln, die ein befreundeter Biowinzer, scherzhaft „der Druide“ genannt, je nach Wetter und Lage der Reben entwickelt. Zwar baut die Familie bereits seit dem 17. Jahrhundert in der Region Wein an, die Domaine de Montmollin jedoch entstand nach einem Geschwisterstreit 1937, der zur Abspaltung eines Teils der Familie führte, aber freilich längst beigelegt ist. Heute leben die Montmollins friedlich in der Nachbarschaft von Vetter Thierry Grosjean, ebenfalls erfolgreicher Winzer, im Ort Auvernier am Neuenburgersee.
www.domainedemontmollin.ch

Familie de Chambrier

Die Domaine de La Lance an den Ausläufern des Jura ist vielleicht das einzige Privathaus der Schweiz, in dessen Innerem sich ein vollkommen intakter Kreuzgang aus dem Mittelalter befindet. Hier gründete 1317 Otto I. von Grandson ein Kloster, das im Zuge der Reformation 1539 säkularisiert und im 18. Jahrhundert durch den hugenottischen Textilunternehmer Jacques-Louis de Pourtalès luxuriös überbaut wurde. Die ersten Reben des Gutes pfl anzten schon die Mönche zur Gewinnung ihres Messweines. Heute beträgt die Anbaufl äche des Weinbergs acht Hektar und wird in vierter Generation von einer Pächterfamilie bewirtschaftet. Die Domaine ist Teil einer Gesellschaft, deren Anteile von den Mitgliedern der Familie de Chambrier gehalten werden. Um alleine die 200 000 Franken Unterhalt für die Gebäude zu erwirtschaften, werden Wohnungen auf dem Gelände vermietet, ebenso Räume an Hochzeitswillige. In den Erhalt der Anlage fl ießen auch die Pachteinnahmen aus dem Weinanbau. Familiensprecher David de Chambrier liebt die Domaine, hat sich aber längst anderen Säften verschrieben. Der Ökonom und ehemalige Mitarbeiter von Google in Zürich hat 2022 ein Technologieunternehmen mitgegründet, das sich der Umwandlung von Abwasser, Urin um genau zu sein, in geruchsneutrales Düngemittel widmet und so eines Tages wesentlich zum Wasserschutz und zur Wasserkonservierung beitragen könnte.
www.lalance.ch

Toggenburg

Familie v. Toggenburg

Für adlige Verhältnisse sind die Toggenburgs in Sachen Wein blutige Anfänger. Erst 2004 kaufte Ulrich Maria Graf v. Toggenburg das Weingut Poggio Rozzi, knappe 30 Kilometer von San Gimignano entfernt. Landwirtschaft freilich betreibt die Urschweizer Familie seit rund 1000 Jahren. „Kein anderer Bereich ist für mich mehr mit dem Begriff Leben verbunden“, sagt Sohn Eberhard v. Toggenburg, der den Betrieb übernommen hat. Nun wohnen er und seine Frau mit drei Kindern abwechselnd in der Toskana und auf dem Sitz Palais Toggenburg in Südtirol, in dessen Nähe auf dem Familienhof Äpfel, Marillen und Zwetschgen zu Destillaten veredelt werden. Das im toskanischen Val di Pesa liegende Weingut kauften die Toggenburgs einem Florentiner Industriellen ab, der es jahrzehntelang hatte verkommen lassen. Eberhard Graf v. Toggenburg, in Wien und Siena ausgebildeter Landwirt und Weinbauer, pflanzte die Rebberge auf 9,5 Hektar zur Hälfte mit dem typischen Sangiovese und zur anderen mit einheimischen, seltenen Rebsorten vollkommen neu an. Heute kommt er auf bis zu 45 000 Flaschen jährlich in fünf Sorten und vermietet Ferienwohnungen auf dem charmanten Gelände des Weinguts.
www.toggenburg.it

Helene Baronin v. Gugelberg

Familie v. Gugelberg

Von Oktober bis Mai trage sie Thermounterwäsche, offenbarte Helene Baronin v. Gugelberg einst in einer Radiosendung. Sie lebt mit ihrer Familie auf dem ältesten noch in Betrieb stehenden Weingut Europas und bewohnt das imposante Schloss Salenegg in Maienfeld. Das verfügt über 79 Zimmer, von denen ganze acht im Winter nutzbar sind, im Rest herrschen eisige Temperaturen. Aber Helene v. Gugelberg weiß, sich warm zu halten, schließlich hat die umtriebige Unternehmerin ständig zu tun und in den vergangenen Jahren einige neue Berufsfelder für sich erschlossen, um die Zukunft des seit 370 Jahren von ihrer Familie bewohnten Schlosses und der seit mindestens 1068 bestehenden Weinberge zu gewährleisten. Zu den neueren Projekten gehört beispielsweise die Anpflanzung von Maulbeerbäumen zur Fütterung von Raupen und Herstellung Schweizer Seidenprodukte oder die Kultivierung von zwei Hektar Nussbäumen, aus deren Ertrag einmal eigene Engadiner Nusstorte entstehen soll. Ideenreichtum und Weitblick kommen nicht von Ungefähr: Nach dem Abschluss an der Hotelfachschule in Lausanne lebte Helene v. Gugelberg mit ihrer Familie zum Unbill ihres Vaters einige Jahre in Australien und auf den Philippinen und übernahm erst danach die elterlichen Unternehmen, zu denen auch das Vier-Sterne-Hotel „Schweizerhof“ in St. Moritz gehört. Aus der in den vergangenen Jahren auf 11,5 Hektar Weinanbaufläche gewachsenen Ernte entstehen jährlich rund 60 000 Flaschen Wein, Delikat-Essige und seit Neuestem auch ein Schaumwein. Damit sich daran auch in Zukunft nichts ändert, probiert Helene v. Gugelberg in einem Testgarten ständige neue pilzresistente Rebsorten aus, die künftigen Klimaanforderungen gerecht werden sollen.
www.schloss-salenegg.ch