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Der Humboldt Japans

Vor 150 Jahren starb der Mediziner und Universalgelehrte Philipp Franz v. Siebold. Wer war der Mann, der dem Westen die Flora und Fauna Japans bescherte und als einer der wichtigsten Vermittler Japans gegenüber der westlichen Welt gilt?

Von Henrike v. Speßhardt

In Japan kennt ihn jedes Kind. Das Leben und Wirken Philipp Franz v. Siebolds (1796–1866) gehört dort zum allgemei-nen Schulstoff. Hierzulande muss man etwas suchen, bis sich jemand findet, der schon von ihm gehört hat. Personifikation des deutschen Naturforschers ist zu Recht Alexander v. Humboldt.
Doch was Humboldt für Südamerika, ist Siebold ohne Zweifel für Japan. Denn wenn wir uns heute über Magnolien, Forsythien, Clematis und Hortensien im Garten freuen, verdanken wir das auch ihm. Und in Japan gilt Philipp Franz v. Siebold als derjenige, der einst die westliche Medizin ins Land brachte.

Philipp Franz v. Siebold wird am 17. Februar 1796 in Würzburg geboren. Er entstammt einer ehemals aus Nideggen in der Eifel ansässigen, das Würzburger Universitätsleben prägenden Gelehrtenfamilie. Bereits sein Urgroßvater Johann Christoph Siebold übt in Nideggen den Beruf des Wundarztes aus. Der Großvater, Carl Caspar Siebold, wird in Würzburg Leibarzt des Fürstbischofs, Universitätsprofessor für Anato-mie, Chirurgie und Geburtshilfe und Oberwundarzt am Juliusspital. Zur Lebensaufgabe macht er sich den Kampf gegen Kurpfuscherei und Aber-glaube. Als Begründer der modernen Chirurgie entwickelt Carl Caspar erste Hygienestandards für Operationssäle und wird für seine Verdienste 1801 in den Adelsstand erhoben. Der Reputation entsprechend wählt die Familie ihr heraldisches Symbol: Die Hand des Chirurgen mit dem gezückten Skalpell soll es fortan schmücken. Auch Carl Caspars Sohn, Georg Christoph, ist schon früh erfolgreich als Mediziner. Allerdings ereilt ihn 1798, erst 30-jährig, der Tod durch eine Lungenerkrankung. Zuvor hat er als Profes-sor der Medizin, Physiologie und Geburtshilfe unter anderem erste Kaiserschnittentbindungen in Würzburg durchgeführt.
Nun steht seine Witwe Maria Apollonia Siebold geb. Lotz (1768–1845) plötzlich allein da mit dem erst zweijährigen Philipp Franz. Sie zieht mit dem Kind zu ihrem ältesten Bruder Franz Joseph Lotz, der Dekan und später Domkapitular im heutigen Würzburger Stadtteil Heidingsfeld ist, und führt dessen Haushalt.
Der kleine Philipp Franz ist Mündel des Dekans, der sich fortan, ebenso wie die Mutter und ehemalige Studenten des Großvaters, vorbildlich um die Ausbildung des Kindes kümmert. Der junge Mann besucht das Gymnasium in Würzburg und beginnt anschließend ebendort ein Studium der Medizin. So wie schon seine Vorfahren ist er Anhänger der medizinischen Tatsachenforschung, die er mit den Grundlagen der christlichen Lehre in Einklang zu bringen sucht.
Obwohl er sich auf Festen des Würzburger Corps Moenania nicht eben als Kind von Traurigkeit gibt, erlangt er nach nur zehn Semestern 1820 die medizinische Doktorwürde und fängt kurz darauf an, als Arzt in Heidingsfeld zu praktizieren.
„Er hat sich dort rasch sehr gelangweilt“, sagt Constantin v. Brandenstein, der Ururenkel Siebolds. Der Waldbauer und Präsident des Malteser Hilfsdienstes ist zugleich Präsident der Würzburger Siebold-Gesellschaft und setzt sich dort gemeinsam mit vielen engagierten Mitstreitern für das Andenken des Forschers ein. Auf dem Familiensitz, der Burg Brandenstein, betreibt er zudem ein eigenes Museum, dessen Bestand bereits über 35 Ausstellungen in aller Welt bereichert hat.
Doch zurück ins öde Heidingsfeld: Philipp Franz schickt von dort alle nur auffindbaren heimischen Schmetterlinge an die renommierte Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft für in Frankfurt. Er möchte hinaus in die Welt, am liebsten nach Brasilien, und nicht in Franken versauern.

Auf nach Ostindien

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Und es naht tatsächlich Rettung, in Person eines ehemaligen Schülers seines Großvaters, dem er das Angebot verdankt, als Militärarzt in niederländischen Diensten nach Ostindien zu reisen. „Etwas Schöneres konnte ihm gar nicht passieren, er war sehr glücklich“, so Constantin v. Brandenstein. „Mit einem hohen Gehalt und für sein Alter beachtlichem militärischem Rang geht es im Februar 1823 nach Batavia, dem heutigen Jakarta.“ Der dortige Gouverneur merkt schnell, dass er es mit einem Ausnahmetalent zu tun hat. Bereits zwei Monate nach seiner Einreise wird Philipp Franz v. Siebold als Arzt und Forscher in die niederländische Faktorei nach Japan abgeordnet. Auf Dejima, einer künstlich angelegten Insel vor Nagasaki, ist den Holländern der Handel mit Japanern erlaubt. Eigentlich soll sich Philipp Franz v. Siebold nur um die ärztliche Versorgung der Mitglieder der niederländischen Faktorei kümmern, doch kurz nach seiner Ankunft führt er auch bei interes-sier ten Japanern entgeltlos bis dahin unbe-kannte Operationen am Auge durch, und als er einen hohen Beamten vom Star heilt, avanciert er schnell zum Wunderdoktor. Auch für die Pocken prophylaxe macht er sich stark und hält Vorträge vor japanischen Wissenschaftlern, die ihn regelmäßig aufsuchen. Er bekommt Sondergenehmigungen zum Verlassen Dejimas und darf außerhalb der Insel eine kleine Gelehrtenschule errichten. Daneben widmet er sich leiden-schaftlich der Tier- und Pflanzenwelt Japans. Die Erforschung von Flora und Fauna ist seine eigentliche Leidenschaft.
Alle vier Jahre muss der Direktor der Faktorei Dejima dem Shogun in Edo seine Referenz erweisen, und er erwählt 1826 Philipp Franz v. Siebold dazu, ihn zu begleiten. Diese fast sechsmonatige Hofreise nutzt der Forscher für unzählige Treffen und Gespräche mit bekannten Gelehrten und hochgestellten Persönlichkeiten Japans und einen Besuch in der kaiserlichen Hofbibliothek. Auch Japanisch beherrscht er bald recht gut.
Das alles ist außergewöhnlich: Denn das Landes-innere kennenzulernen, ist zu der Zeit für Europäer nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. „Auskundschaftungen des Landes, Nachforschungen über Staats- und Kirchenverfassung, Kriegswesen und andere politische Verhältnisse und Einrichtungen sind Fremdlingen aufs strengste untersagt, und die schärfsten Gesetze verbieten den Unterthanen, ihnen darüber Mitteilung zu machen (…)“, schreibt v. Siebold 1832 rückblickend in seinem Werk „Nippon“, einer Zusammenfassung seiner Beobachtungen und Forschungen in Japan. Und weiter: „(…) streng genommen ist ihm [dem Fremden] jede Berührung mit Land und Volk untersagt.“

Japanische Geliebte

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Auch diese Regel weiß Philipp Franz v. Siebold leidenschaftlich zu umgehen. Am 16. Novem-ber 1823 schreibt er einen seiner ersten langen Briefe aus Dejima: „[Ich liege] in den Armen einer liebenswürdigen, 16-jährigen Japanesin, nach deren glücklich getroffener Wahl ich im Be-sitz einer asiatischen Schönheit bin, die ich nicht wohl mit einer europäischen will austauschen.“ „Adressiert ist der Brief an seine ‚Teuersten‘, womit wohl Mutter und Onkel gemeint sind“, sagt Wilhelm Graf Adelmann v. Adelsmannsfelden, der das Brandenstein’sche Siebold-Archiv seit zwei Jahren als Kurator betreut und viele Briefe und Dokumente aufgespürt hat, die ihrer Auswertung noch harren.
So viel ist klar: Philipp Franz lebt seit 1823 mit der jungen Japanerin Kusumoto O-Taki, genannt Sonogi, zusammen. Am 6. Mai 1827 wird die gemeinsame Tochter O-Ine geboren. Das Glück soll jedoch nicht lange währen.
Ende 1827 möchte der Forscher Nagasaki verlassen, um in Europa seine über die Jahre gesam-melten Materialien, gut verpackt in 89 Kisten, auswerten zu können. Doch ein aufziehender Taifun vereitelt die Abreise, das Schiff strandet vor Nagasaki. Zwar können die Kisten gerettet werden, aber man hat zuvor einen Briefwechsel zwischen Philipp Franz v. Siebold und dem Hofastronomen Takahashi überwacht und findet wegen der Verzögerung der Abreise nun noch die Zeit, zu handeln.
Dem Forscher wird vorgeworfen, als Wissen-schaftler getarnt das Land für Russland ausspioniert zu haben. Seine unstillbare Neugierde ist ihm zum Verhängnis geworden. Die sogenannte Siebold-Affäre nimmt ihren Lauf: Viele seiner japanischen Wegbegleiter und Freunde werden inhaftiert, zum Teil gefoltert, der befreundete Astronom verstirbt gar in der Haft. Philipp Franz v. Siebold selbst wird unter Hausarrest gestellt. Er verweigert die Aussage zur Tätigkeit seiner Kollegen und Mitarbeiter. Am 22. Oktober 1829 fällt die Entscheidung: Der Deutsche muss das Land verlassen, für immer. Seine Frau und die geliebte Tochter bleiben zurück. Im Sommer 1830 schreibt er nach seiner Rückkehr in die Niederlande einen ersten Brief an Sonogi und O-Ine, der mit den Worten endet: „Bleibt mir immer treu. Ich bin einsam.“
Nach seiner Ausweisung wächst die Tochter unter dem Schutz der einst vom Vater ausgebildeten japanischen Ärzte auf und avanciert später zu Japans erster Frauenärztin und Ge-burtshelferin nach europäischem Vorbild. 1882 wird sie gar Leibärztin der Kaiserin in Tokyo. Erst 1859 sehen sich Vater und Tochter wieder, als Philipp Franz v. Siebold mit dem 13-jährigen Sohn Alexander Japan bereist. Er ist natürlich nach Alexander v. Humboldt benannt. Seine Mutter, Karoline Ida Helene v. Gagern (1820–1877), die Philipp Franz v. Siebold am 10. Okto-ber 1845 in Berlin heiratete, schenkte ihm drei Söhne und zwei Töchter.
Doch zurück in die 1830er-Jahre. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Europa beginnt der Wissenschaftler mit der Sichtung seiner Mitbringsel.

Besessener Sammler

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In einem Rechenschaftsbericht an die nieder-ländische Regierung ist von unglaublichen „200 Säugetieren, 900 Vögeln, 750 Fischen, 170 Repti-lien, 5000 Wirbellosen, 1200 Pflanzenarten und 12 000 Herbariumspräparaten“ die Rede. Es ist die Liste eines besessenen Sammlers. Aus seinen Erfahrungen und Erkenntnissen entsteht 1833 der Sammelband „Nippon“, kurz darauf erscheinen die ersten Exemplare der „Fauna Japonica“ und der „Flora Japonica“, die ihn in europäischen Fachkreisen berühmt und zum Mediator zwischen Japan und Europa machen. Für den hol-ländischen König Wilhelm II. entwirft er einen Brief an den Shogun, der die friedliche Öffnung Japans vorantreiben soll, und auch die Russen berät er in den 1850er-Jahren. Doch erst 1854 beugt sich die Shogunats-Regierung den militärischen Drohgebärden Amerikas und schließt Handelsverträge ab. Im Zuge dessen wird auch Philipp Franz v. Siebolds Verbannung aufgehoben, von 1859 bis 1862 reist er erneut nach Japan.
Seine letzten Jahre sind geprägt von einer Zerrissenheit zwischen den Gesellschaften. Dem Westen steht er den Interessen Japans zu nahe, den Japanern ist er als ehemals Verbannter suspekt. Wenige Jahre nach seiner Rückkehr stirbt er am 18. Oktober 1866 in München.
Bis heute besteht Kontakt der v. Siebolds zum japanischen Zweig der Familie, immerhin 150 Jahre nach dem Tod des großen Forschers.