Schloss Rothestein

Das Schloss an der Grenze

Der „Freundeskreis Schloss Rothestein“ unterstützt Daniela Freifrau von Hauch und ihren Mann bei der Erhaltung und Nutzung von Schloss Rothestein im Landkreis Dillingen an der Donau.

Von Graf und Gräfin Constantin und Ulrike v. u. zu Hoensbroech

An Heiligabend 1989 versammelte sich die Familie vor einem etwa 60 Zentimeter hohen Weihnachtsbäumchen. In all den Jahrzehnten davor hatten sich die Familienangehörigen stets vor einem etwa fünf Meter hohen Christbaum geschart. Der imposante Baum wurde in den eigenen Wäldern geschlagen und im Salon des großräumigen Schlosses aufgestellt. Weihnachten 1989 jedoch kam das Tannenbäumchen aus einem Wald jenseits der innerdeutschen Grenze und stand auf dem Flügel in einer kleinen Wohnung unterhalb des einstigen Familienschlosses. Das Jahresende 1989 markiert für Freiherr Georg v. Lüninck im doppelten Sinne einen tiefgreifenden, ja schicksalhaften Einschnitt in der Chronik seiner Familie. Denn das wenige Wochen zuvor, im Sommer verkaufte Familienschloss Rothestein, auf einem Berg etwas außerhalb von Bad Sooden-Allenstein gelegen, stand fast genau auf jener innerdeutschen Grenze, die Europa jahrzehntelang in zwei Blöcke teilte. „Mit der Teilung Deutschlands bin ich aufgewachsen, mehr noch: Sie prägte unseren Alltag“, erzählt Baron Lüninck. Höchst emotional ist denn auch seine Erinnerung an jenen 9. November 1989. „Dieser Tag wird mich mein Leben lang beschäftigen“, ist sich Freiherr v. Lüninck sicher. Um 12 Uhr mittags übergab der heute 59-Jährige den Schlüssel für sein im Sommer verkauftes Schloss Rothestein an den neuen Besitzer. Wenige Stunden später saß Lüninck in seinem neuen Zuhause am Fuße des Schlossbergs vor dem Fernseher und verfolgte die Übertragung jener legendären Pressekonferenz, bei der Günter Schabowski, Mitglied des Zentralkomitees der Deutschen Demokratischen Republik, auf die Frage eines Journalisten nach dem Beginn der neuen Regelungen für den innerdeutschen Reiseverkehr stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis …, ist das sofort, unverzüglich!“ Freiherr Georg v. Lüninck wollte zunächst gar nicht glauben, was er da sah und hörte. Aber Anfang 1990 wurde tatsächlich die Grenze dort geöffnet, wo Schloss Rothestein seit über 100 Jahren so organisch in die bergige Landschaft des Werra-Meißner-Kreises im nordhessischen Mittelgebirge an der Grenze zu Thüringen eingepflanzt ist. Endlich konnten die Lünincks vom Höhenzug der bergigen Landschaft am Rande des Werratals frei und unbeschwert vom Osten in den Westen blicken. „Davon hatten wir früher geträumt. Als Kinder durften wir nur bis zu einem kleinen Abschnitt des Höhenkamms gehen. Anfangs konnten wir gar nicht verstehen, warum wir nicht weitergehen und auf das, was dahinter liegt, blicken durften.“

Georg v. Lüninck

Blick durch den Zaun in den Osten

In Asbach, nur wenige Kilometer von Rothestein entfernt, erinnert heute ein Gedenkstein an die Grenzöffnung am 20. Januar 1990. „Früher, wenn wir Besuch hatten, zeigten wir denen Asbach“, erinnert sich Baron Lüninck an die Ausflüge an den Rand des kleinen eingezäunten Dorfs. Es lag direkt an der Demarkationslinie.

„Wir konnten von unserer Seite aus durch den Zaun hindurch den Alltag der DDR beobachten, wie im Zoo.“ Busse mit Touristen oder Kurgästen aus Bad Sooden wurden damals am Grenzzaun geparkt. Das freundliche Winken nach drüben indes blieb unbeantwortet. Die Menschen aus dem Osten hätten sich durch eine Erwiderung verdächtig gemacht. Kontakt über den Grenzzaun war verboten.

„Als Kinder und Jugendliche haben wir das menschenverachtende System der DDR erst nach und nach wahrgenommen und verstanden“, erinnert sich Baron Lüninck. Kurze Grenzübertritte im elterlichen Wald, durch den die innerdeutsche Grenze verlief, gehörten ebenso zu den jugendlichen Leichtsinnigkeiten wie die Beobachtung des Wachturms auf dem Höhenzug hinter dem Schloss. Hin und wieder wurden auch in Trenchcoats gekleidete Wanderer im Wald angetroffen. Als 1990 im ehemaligen Todesstreifen die sogenannte Stasi-Schleuse entdeckt wurde, „bestätigte sich, was wir lange geahnt haben“, so Baron Lüninck: Der Geheimdienst der DDR, der Staatssicherheitsdienst, schleuste mittels eines 40 Meter langen durch den Todesstreifen erdverlegten Rohres seine Spione in den Westen. Diese mussten dann zunächst den Lüninck’schen Wald durchqueren, um weiter in die Bundesrepublik zu gelangen, wo sie ihre Aufträge erfüllten.

Schlossanlage Rothestein

Eigentlich aber waren sie bereits auf östlicher Seite durch den Wald der Lünincks gelaufen. Denn durch die Grenzziehung nach dem Vertrag von Potsdam im Jahr 1945 wurden 200 Hektar Wald in Thüringen enteignet, 800 Hektar verblieben in Hessen. Der ehemalige Besitz im Osten hieß familienintern seitdem „VEB: Vaters enteigneter Betrieb“ – in Anlehnung an Volkseigener Betrieb (VEB), wie die Rechtsform für die Industrie- und Dienstleistungsbetriebe in der sowjetischen Besatzungszone genannt wurde.

Bereits 1945 hatte der Gründer der Linie Lüninck-Rothestein umfangreiche Teile des Schlossinventars zusammenpacken und für den Auszug nach Bad Sooden und ins Sauerland vorbereiten lassen. Er befürchtete die Enteignung des Schlosses und des gesamten Betriebes in die sowjetische Besatzungszone. Dann jedoch wurde der Grenzverlauf gemäß der alten Grenze zwischen Kurhessen und dem Königreich Preußen festgelegt. Die alten Grenzsteine aus dem 19. Jahrhundert bekamen wieder ihre Gültigkeit: Rothestein verblieb gerade noch auf westlicher Seite – die Familientradition konnte fortgeführt werden.

Todesstreifen mit Fahrspurplatten

Seit 1927 Sitz der Freiherrn v. Lüninck-Rothestein

Der promovierte Landwirt Georg Freiherr v. Lüninck aus dem sauerländischen Ostwig, Jahrgang 1895, erwarb 1927 Schloss Rothestein mit Land- und Forstwirtschaft sowie Inventar. Mit seiner Frau Mechthild, einer geborenen Freiin v. Fürstenberg, und elf Kindern lebte er auf dem Ende des 19. Jahrhunderts im neogotischen Stil erbauten Schloss. Errichtet wurde es von Freiherr Adolph v. u. zu Gilsa, Intendant des Kasseler Theaters. Später kaufte der vom preußischen König Wilhelm I. nobilitierte Industrielle Freiherr Carl Ludwig v. Knoop das noch im Bau befindliche Schloss.

Das älteste Kind von Freiherr Georg v. Lüninck war Rudolf, der Vater des aktuellen Familienchefs der Linie Lüninck-Rothestein. Rudolf kehrte 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und zog in den 1950er-Jahren mit seiner Frau Monika, geborene Freiin v. Salis-Soglio, zunächst für einige Jahre in ein Gebäude am Fuße des Schlossbergs. „Wir lebten immer mit der realen Vorstellung: Die Russen kommen“, erinnert sich die 90 Jahre alte Baronin Monika Lüninck. Jahrzehntelang packte sie mit ihren Kindern Pakete und schickte sie ins benachbarte Eichsfeld. Erst nach dem Fall der Mauer konnte der direkte Kontakt mit den Familien der Waldarbeiter, die seit 1949 nicht mehr im Forst von Rothestein arbeiten konnten, wieder aufgenommen werden.

Vor der Teilung Deutschlands waren die regelmäßigen heiligen Messen in der Schlosskapelle nicht nur für die freiherrliche Familie, sondern auch für die meist katholischen Forstarbeiter aus dem Eichsfeld sowie – nach dem Krieg – die aus dem Sudetenland zugezogenen Arbeiter und deren Angehörige eine Stärkung im Glauben. Der Besuch von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2011 im Eichsfeld war besonders für die Menschen in der überwiegend katholisch geprägten Enklave der ehemaligen DDR, aber auch für viele Menschen im Nordhessischen eine besondere Anerkennung und Ermutigung im Glauben. Auch 20 Jahre danach waren die Erinnerungen an Diktatur und Teilung immer noch gegenwärtig. „Wir konnten uns den Fall des Eisernen Vorhangs nicht vorstellen“, erinnert sich Monika Lüninck und ergänzt: „Es ist ein Wunder!“

Auf die Nachfrage, ob sie dies im religiösen Sinne meint, entgegnet sie resolut: „Natürlich, wo soll es denn sonst herkommen?“

Schlossverkauf im Wendejahr 1989

Weil der Forstbetrieb die Unterhaltskosten für das Schloss nicht mehr erwirtschaften konnte, entschloss sich der Familienchef Georg Frhr. v. Lüninck zum Verkauf des Schlosses im Wendejahr 1989. Die repräsentative Immobilie ging durch die Hände verschiedener Unternehmer. Einer von ihnen bediente sich nach dem Mauerfall am DDR-Grenzzaun und riegelte damit das Schloss und die zwölf Hektar Land ab, die er erworben hatte. Auf einer Länge von einigen Hundert Metern befi ndet sich heute noch ein Zaunelement neben einem der Wirtschaftswege. Nach und nach wird es von der Natur überwuchert. Seit einigen Jahren ist Schloss Rothestein im Besitz eines Insolvenzverwalters und befi ndet sich im wahrsten Sinne des Wortes in einem Dornröschenschlaf. Vermooste Steintreppen führen auf einen, von Farnen überwucherten, kaum mehr erkennbaren Tennisplatz im Schlossgarten. Ein vergilbtes Plakat am Haupteingang weist auf eine „Geschlossene Gesellschaft“ hin und gewährt Zutritt „nur für Gäste der Feierlichkeit“. Aber auf Schloss Rothestein wird schon lange nicht mehr gefeiert. Ein solventer und seriöser Investor für das weitestgehend intakte Haus ist aktuell nicht in Sicht.

Das „grüne Band“ überwuchert die Grenze

Der Jurist Freiherr Georg v. Lüninck bewirtschaftet bis heute seinen bis an den ehemaligen Todesstreifen heranreichenden Forstbetrieb. Bei Wanderungen durch den Wald und auf dem ehemaligen Todesstreifen wird die unselige Vergangenheit mittlerweile erst auf den zweiten Blick sicht- und spürbar. Das fast 1400 Kilometer lange „grüne Band“ hat die historische und ökologischen Teilung überwunden und ist jetzt Lebensraum für viele Tier- und Pfl anzenarten durch nahezu alle deutschen Landschaften. Hinter Schloss Rothestein, wo einst Militärfahrzeuge patrouillierten und auf Menschen wie auf Wild in der Dämmerung geschossen wurden, liegt heute der wunderschöne „Naturraum Frau-Holle-Land“ mit seinen zahlreichen Premiumwanderwegen durch das dicht bewaldete Mittelgebirge – und herrlichen Ausblicken nach West und Ost.