Schulz

Warum Politiker keine Heilsbringer sind

Der neue Vorsitzende und Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, mischt den Wahlkampf 2017 auf. Was sagt das über die Wiederwahl von Angela Merkel aus, und wie sind seine eigenen Chancen?

Von Albrecht Prinz v. Croӱ

Wenn das Eis schmilzt, die Starre weicht, wenn sich der Mehltau verzieht und Neues, Unerwartetes entsteht, dann ist Frühling? Nein, dann ist Februar 2017 in Deutschland und der jahrelange politische Stillstand ist Geschichte. So ist die Lesart der letzten zwei Monate, seitdem der plötzlich selbstlose ehemalige Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel in einem Anfall von Selbsterkenntnis seine Partei freigegeben hat, seinen Stuhl geräumt hat für Martin Schulz, der alsbald als Heilsbringer besungen und gerühmt wurde.

Was ist das für ein Phänomen? Da kommt ein Mann aus dem Brüsseler Abseits, wird in einer einsamen Entscheidung zum Kanzlerkandidaten ausgerufen, und eine Partei verfällt in kollektive Schnappatmung. Er zieht durch die Lande, ruft das große Gerechtigkeitsdefizit aus und sagt kein einziges konkretes Wort. Martin Schulz gibt den Neuen, das frische Gesicht, den Unverbrauchten jenseits des Establishments. Und der Gipfel? Er wird mit 100 Prozent zum neuen Vorsitzenden einer Partei gewählt, die seit fünf Jahren Bestandteil der Bundesregierung ist und in vielen Ländern ebenfalls die politischen Geschicke bestimmt. So viel Aufbruch war lange nicht – so viel Populismus aber auch nicht!

In Wahrheit hat der Aufstieg des Martin Schulz zum „Heilsbringer“ sehr viel weniger mit ihm zu tun, als er uns nun landauf landab weismachen will. Er ist kein Unbekannter, der es denen in Berlin mal so richtig zeigt. Er saß als Europa-Fraktionsvorsitzender und Präsident des europäischen Parlaments seit 1999 im SPD-Vorstand, hat alle wichtigen Beschlüsse nicht nur gekannt, sondern auch befürwortet, er hat die Agenda 2010 des bisher letzten sozialdemokratischen Kanzlers Schröder, gegen die er jetzt vollmundig zu Felde zieht, nicht nur ertragen, sondern ebenso vollmundig gepriesen. Er war ein fester Bestandteil des politischen Betriebs, wenn vielleicht auch in Brüssel residierend etwas abseits des Radarschirms der meisten Bürger. Sich nun als der Phoenix aus der Asche zu gerieren ist Wahlkampf, der aber ist bekanntlich nicht verboten und verläuft nach anderen Gesetzen. Deswegen wird sich der neue Vorsitzende der alten Arbeiterpartei auch nicht wundern, wenn ihm nun schon solche Begriffe wie „Rotpopulist“ oder „Sozialpopulist“ um die Ohren fliegen.

Das Phänomen Martin Schulz erklärt sich weniger in seiner Person, sondern in der der Kanzlerin. Angela Merkel ereilt unter Umständen das Schicksal des ewigen Kanzlers Kohl: Der Wähler scheint ihrer überdrüssig, gefühlt ewig an der Macht steht sie eben nicht mehr für „Frühling“ und Aufbruch, sondern für ein langweilendes „Weiter so, ihr kennt mich ja“! Ja eben, das genau ist das Problem. Martin Schulz wäre nicht der erste Politiker, der nicht gewählt worden ist, sondern dessen Gegenkandidat abgewählt worden war. Gerhard Schröder war der Nutznießer des erwähnten Kanzlers der Einheit, der sich plötzlich im Amt wiederfand und anfangs durchaus mit ihm fremdelte. Auch die jüngere Zeitgeschichte gibt ein solches Beispiel her: Der schon zu Lebzeiten historische englische Premier Winston Churchill trat zum Kriegsende 1945 siegessicher zur Wiederwahl an, alle Auguren verhießen ihm einen gloriosen Wahlsieg, er selbst saß am Tag selbst fern von London zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman und mit dem russischen Diktator Stalin bei der Potsdamer Konferenz, um über das Schicksal Europas zu richten. Doch der englische Wähler wollte keine Heldenverehrung, müde vom Krieg und seiner Rhetorik wählten sie seinen Gegenkandidaten Clement Attlee von der Labourpartei zum Premierminister und bereiteten der Jahrhundertgestalt Churchill eine nie dagewesene Demütigung: Geschlagen musste er die Verhandlungen in Potsdam verlassen.

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Der Situation Deutschlands im Wahljahr 2017 am nächsten kommt vielleicht die Ausgangslage der französischen Präsidentenwahl von 2012: Das Land war in einer Dauerhyperventilation, die der anstrengende Brummkreisel Nicolas Sarkozy mit seiner brutalen Präsenz angerichtet hatte. Sein Gegenkandidat war der Sozialist François Hollande, der bis dahin mit seinen Ambitionen auf das Präsidentenamt eher zurückhaltend umgegangen war. Seine eigene Partei sah in ihm mehr einen hölzernen Apparatschik als einen visionären Präsidentschaftskandidaten. Doch der Wähler war das Gehampel von Sarkozy leid, er wollte einen Wechsel und dann eben doch lieber einen trockenen „Verwaltungsbeamten“ à la Hollande. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Hollande hat sich in den vergangenen fünf Jahren als eine solch eklatante Fehlbesetzung herausgestellt, dass er zu einer denkbaren Wiederwahl in diesem April erst gar nicht mehr antrat.

Die Lehre aus diesen Beispielen ist also die Frage, wie sehr sich die Dauerkanzlerin Angela Merkel abgenutzt hat, wie sehr sie den Bürgern inzwischen auf die Nerven geht? Etwa schon so sehr, dass man in dem „Rotpopulisten“ Schulz weniger einen Politiker sieht als eher eine Lichtgestalt, ihn in den Himmel lobt, weil er endlich den Bruch mit allem Bisherigen, vor allem aber mit der staubtrockenen Analytik der Kanzlerin bedeutet? Angela Merkel gibt der Sehnsucht der Deutschen nach Frühling, nach schmelzendem Eis und weichendem Mehltau keine Nahrung, sie versteht Politik als das Machbare, nicht als wolkige Volksbeglückungsversprechen. Auftritte wie die von Martin Schulz mit bebendem Pathos und sozialem Tremolo, die Säle rocken und eine ganze Partei mit einem Schlag aus der tiefen Depression endloser Wahlniederlagen im Bund erlösen, sind ihre Sache nicht.

Angela Merkel ist an einem Scheidepunkt ihrer Kanzlerschaft, erstmals seit zwölf Jahren ist der Gedanke an eine Niederlage nicht völlig utopisch, teilweise panische Reaktionen ihrer Partei geben davon bereits jetzt ein beredtes Zeugnis. Und die ersten Rufer aus der Wüste trauen sich aus der Deckung: Friedrich Merz, Merkel-Geschlagener und seitdem immer in Lauerstellung, um der Dame etwas „zurückzugeben“, geht schon mal ganz mutig voran: Angela Merkel habe den „Zeitpunkt für ihren selbst bestimmten Abgang verpasst“, lässt er beiläufig fallen. Was ist Rache, was ist Analyse? In jedem Fall darf bei einer Politikerin, die sich immer geschworen hatte, den Zeitpunkt ihres Abgangs selbst zu bestimmen und sich keinesfalls wie Schröder und Kohl aus dem Amt „wählen“ zu lassen, mal nachgefragt werden. Wie sicher ist sie sich ihrer Wiederwahl am 24. September? Wie sehr erschüttert ist dieser Glaube durch das Phänomen Schulz? Und, bei der CDU immer ein Punkt, wie sehr wird sie noch getragen von den Abgeordneten der Bundestagsfraktion, die angesichts der SPD-Mania schon um ihre Stühle bangen?
Es kommt etwas anderes hinzu: Ihre Entscheidung aus dem September 2015, die Flüchtlingsströme nicht an der deutschen Grenze aufzuhalten, war auch angesichts des europäischen Zwergenwettbewerbs unter den Staatsmännern und -frauen visionär und außerordentlich mutig, politisch aber vielleicht ihr Tod. Auch wenn sie sich damit in guter Gesellschaft etwa mit Gerhard Schröder befindet, der seine Agenda 2010 politisch nicht überlebt hat, so richtig und wegweisend sie auch war: In dieser Entscheidung kulminierte die Unfähigkeit der Kanzlerin, ihre Politik auch zu erklären, ihre potenziellen Wähler auch „mitzunehmen“. Mutige und visionäre Entscheidungen haben eben den Nachteil, dass sich deren Vision und Weitsicht erst Jahre später erschließen. Kommunikation aber ist für das Hier und Jetzt! Der Widerwillen, ja teilweise die inzwischen schroffe Ablehnung der Person Angela Merkel bis tief in die eigene Partei hinein rührt eben genau daher: Die in jeder Gesellschaft latent vorhandene Abneigung gegen Einwanderung hätte aufgenommen und in Einsicht und Verständnis für notwendige und in diesem Fall wahrscheinlich wirklich „alternativlose“ Maßnahmen umgewandelt werden müssen. Das aber ist ein mühsamer und langwieriger Prozess, ein höchst emotionaler dazu, der sich aber eben für eine nüchterne Physikerin nicht erschließt. Das Wahlergebnis im Saarland kam da gerade recht. Hier hat eine ebenso nüchterne Ministerpräsidentin der CDU gezeigt, wie klare Kante geht, wie man Wahlen gewinnen kann, ohne, wie von Angela Merkel gefordert, die Emotionskeule auszupacken. Es wird die CDU bestärken und beflügeln, doch Vorsicht: In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, den beiden nächsten „Wahlstationen“, treten für die CDU keine Kaliber vom Schlage Annegret Kramp-Karrenbauers zur Wahl an. Und wenn in diesen Ländern bundespolitische Aspekte eine stärkere Rolle spielen sollten, könnte sich das Blatt schon wieder wenden.

Und doch: Die Bäume des Heilsbringers Martin Schulz sind nicht in den saarländischen Himmel gewachsen, ganz im Gegenteil. Ernüchterung macht sich breit, Umfragen sind eben keine Wahlergebnisse. Es mehren jetzt sich die Stimmen, die nach der Substanz fragen, nach Inhalten und ja, auch nach früherem Verhalten. Und da kommt der gefühlige Wahlkämpfer Schulz nun langsam auch wieder auf den Boden. Der Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments stimmte Ende März dafür, seine Beförderungsbeschlüsse und Prämienzahlungen aus seiner Zeit als Parlamentspräsident infrage zu stellen. Der Ausschuss forderte Martin Schulz außerdem auf, eine regelwidrige Beförderung formal zu widerrufen. Das mögen Petitessen sein, aber für jemanden, der mit dem Thema soziale Gerechtigkeit wahre Partei-Hochämter feiert, nicht ungefährlich. Und dann die Medien: Was konnte es Schöneres für sie geben als die Geburtsstunde des „heiligen Martin“. Ein Gutteil seines spektakulären Aufstiegs verdankt er der Liebe deutscher Journalisten für Aufbruch, Veränderung, Sieg und Niederlage, Aufstieg und Fall. Die sorgfältige Analyse, in grauer Vorzeit einmal Merkmal für Qualitätsjournalismus, trat in den Hintergrund. Brot und Spiele scheint das neue Motiv zu sein, Gladiatorenkämpfe vor Millionenpublikum, wo die Medientaktgeber ganz nach Belieben den Daumen senken, wenn sie des Schauspiels überdrüssig sind. Und nun senkt sich der Daumen: Die Bilder der jubelnden Parteimassen sind geschossen, die Story des einfachen Mannes aus Würselen ist erzählt, die Gerechtigkeitsaufführung beginnt zu langweilen und hat die Wähler im Saarland eher kaltgelassen. Plötzlich, so stellt der Verleger und Publizist Wolfram Weimer fest, spaziert die Vokabel „überschätzt durch die Martins-Republik“. Er nennt fünf Gründe dafür. Schulz habe ein Altlasten-Problem. Nicht nur die Rüge aus Brüssel (s. o.), politisch gefährlich sei der Vorgang, dass Schulz in „exzessiver Weise (an 365 Tagen im Jahr!)“ Tagegelder in Anspruch genommen habe. Schulz hab es als EU-Parlamentspräsident derart geschickt mit „Residenzzulagen, Kostenpauschalen und Tagegeldern auf die höchste Verdienstsumme gebracht, die je ein deutscher Politiker aus Steuergeldern erhalten hat – rund 280 000 Euro jährlich netto“.
Zweitens habe Schulz ein Bilanz-Problem, denn die EU sei just in seinen Verantwortungsjahren in schwere Existenznot geraten. „Von der Migrationskrise über den Schuldenkrach bis zum Brexit hinterlässt das Gespann Juncker/Schulz ein tief zerrüttetes Projekt.“ Zum Dritten habe Schulz ein Glaubwürdigkeits-Problem wegen seiner Kritik an Gerhard Schröders Agendapolitik. Viertens habe Schulz als EU-Parlamentspräsident lautstark Positionen eingenommen, die in Deutschland reichlich unpopulär seien: Transfers an Griechenland, Eurobonds und die europaweite Einlagensicherung. Und zu guter Letzt sieht Weimer beim Kandidaten Schulz ein „Opportunismusproblem“: Der „Stern“ kritisiere seine „gigantische Phrasendreschmaschine“ und fühlt sich an einen anderen „Gefälligkeitsredner“ erinnert: an Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU).

Schulz muss vielleicht noch lernen, was Angela Merkel aus dem Effeff beherrscht: Politik ist die Kunst des Machbaren, nicht des Wünschbaren. Politiker sind keine Heilsbringer, weil die Wirklichkeit sie oft genug einholt.