„Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht“
Seine absurden beweglichen Maschinenskulpturen machten ihn berühmt. Der Schweizer kinetische Aktionskünstler Jean Tinguely war Provokateur und Poet zugleich. In einer Retrospektive in Düsseldorf ist seine ironisch-spielerische Gedankenwelt mit allen Sinnen erlebbar.
Von Tatjana Gräfin v. Dönhoff
Mit einem kleinen Fußschalter wie bei einer Stehlampe erweckt man ihn zum Leben. Es rattert und klappert, zischt und ruckelt, quietscht und wackelt, wenn der Gigant erwacht. Stahlreifen, Draht, Antriebsriemen, Rohre und Stangen, Felgen und Eisenscheiben und ein Zirkuspferd drehen, stoßen und galoppieren los, angetrieben von Elektromotoren, unermüdlich in immer gleichen sich wiederholenden Bewegungen. Am Ende rührt ein kopfüber hängender Gartenzwerg mit der Spitze seiner Zipfelmütze in einer Wassertonne. Total verrückt und faszinierend, gleichzeitig eine tatsächlich funktionierende Maschine, in deren Eingeweiden man herumklettern kann. Sieben Meter hoch und 17 Meter lang ist die „Méta-Maxi-Maxi-Utopia“ die Jean Tingely 1987 erdacht und gebaut hat.
Zitterpartie für Kuratoren
Zurzeit ist „Utopia“ der Publikumsmagnet in der Tinguely-Retrospektive zum 25. Todestag des Ausnahmekünstlers im Museum Kunstpalast in Düsseldorf. Eine Leihgabe der außerordentlichen Art. Zwei Wochen brauchten Arbeiter und Experten des Baseler Tinguely-Museums allein, um die Riesenmaschine abzubauen, zu verpacken und mit sechs Lkw nach Düsseldorf zu bringen. Der Wiederaufbau wurde nicht nur zum Kraftakt, sondern war ein perfekt durchdachtes 3-D-Riesenpuzzle. Fotos, Nummern und Markierungen waren das Einzige, wonach sich die Kunstexperten richten konnten, denn für keine seiner Maschinen hat Tinguely Pläne oder Konstruktionszeichnungen hinterlassen. Eine Zitterpartie für die Kuratoren.
Die Tinguely-Schau im Kunstpalast ermöglicht mit 90 Leihgaben aus der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland einen umfangreichen Einblick in das lustvolllustige und poetisch-sinnliche Werk des provokanten Visionärs und Mitbegründer des Nouveau Réalisme,der von sich sagte: „Ich bin nur ein Dieb, ein Parasit der Technik, ein Stibitzer, ein Schmarotzer in dieser wunderbaren Industriewelt.“
Am 22. Mai 1925 wird Jean Tinguely in Fribourg, Schweiz, geboren. Nach der Schule beginnt er 1940 in einem Kaufhaus eine Lehre zum Schaufensterdekorateur, die er bald abbricht. Von 1941 bis 1945 belegt er Kurse in der Kunstgewerblichen Abteilung der Allgemeinen Gewerbeschule in Basel. Dort begeistert er sich für die Kunst Schwitters’ und Klees und das Bauhaus. Schon 1944 beginnt er, maschinenartige Skulpturen zu bauen und sich mit räumlicher Bewegung auseinanderzusetzen. Seine Elektromotoren bringen es auf erstaunlich hohe Drehgeschwindigkeiten. 1951 heiratet er die Künstlerin Eva Aeppli und zieht nach Paris. Dort trifft er Robert Rauschenberg und geht mit ihm zu internationalen Happenings. 1953 erschafft er seine ersten „Metamechanischen Reliefs“, geometrische Formen aus Weißblech, die er vor schwarzen Hintergründen auf Achsen setzt und von Motoren antreiben lässt. Bald schon wandern die Motoren auf die Vorderseite, sodass die Antriebsteile sichtbar werden. „Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht“, wird sein Motto.
Ab 1954 beschäftigt sich Tinguely mit seiner neuesten Kreation, den automatischen Zeichenmaschinen: „Métamatics“, bei denen die Betrachter als Akteure in das künstlerische Geschehen einbezogen werden. Mithilfe der Malmaschinen können mechanisch abstrakte Kunstwerke hergestellt werden, von denen keines dem anderen gleicht. Aber sie können auch den Stil von Jackson Pollock oder Georges Mathieu nachmachen. Die etablierte Kunstwelt ist entsetzt, Tinguely aber bekommt seine erste Einzelausstellung in der Galerie Arnaud.
Das Atelier – ein Schrotthaufen
1955 lernt Tinguely die Künstlerin Niki de Saint Phalle kennen und bald auch lieben. In einem Brief an ihren Geliebten erinnerte sie sich später an dieses erste Treffen: „Ich verliebte mich sofort in Deine Arbeit. Dein Atelier sah aus wie ein riesiger Schrotthaufen voll wunderbarer verborgener Schätze …“ Ab 1960 leben sie zusammen, heiraten aber erst 1971. Tinguely wird für Niki auch als Künstlerin ein wichtiger Mentor und Lehrer. Er unterrichtet sie in Bildhauerei und zeigt ihr, wie man aus Gips stabile Skulpturen bauen kann. So entstehen ihre berühmt gewordenen farbenfrohen „Nanas“. Sie entwickeln in den kommenden Jahren gemeinsame Projekte. Niki hat Einwirkung auf Tinguelys Werke und umgekehrt. Sie animiert ihn, Federn und farbige Materialien einzusetzen, er erweitert ihre Reliefs mit „Zeichnungen“ aus Eisendraht. Zusammen erschaffen sie Schießbilder, indem sie mit Farbkugeln auf eine mit Objekten beklebte Leinwand ballern.
Besonderen Spaß hat das Paar bei den gemeinsamen Happings. Etwa im August 1961, als sie zum Geburtstag von Salvador Dalí einen 2,80 Meter großen Pappmaché-Stier in der Arena von Figueras explodieren lassen. Später entstehen zusammen mit anderen Künstlern Bühnenstücke und Bühnendekorationen. Ein gemeinsames Großprojekte ist 1976 „Le Paradis fantastique“ für den Pavillon Frankreichs bei der Weltausstellung in Montreal. Über 30 Jahre schaffen es die beiden, eigenständige Künstler zu sein, aber auch gemeinsam etwas zu entwickeln und durchzuführen. Sie beeinflussen sich gegenseitig, begreifen entstehende Konkurrenz als Dialog zum Guten des Ganzen. Eine einzigartige Liebes- und Lebensbeziehung.
In den 60er-Jahren beginnt Tinguely mit der Erschaffung seiner motorbetriebenen lärmenden Maschinenplastiken. Die Materialien holt er sich von Schrottplätzen. Diese zwecklosen Maschinen, mal spielerisch und witzig, mal bedrohlich und aggressiv, spiegeln Tinguelys Technikbegeisterung wider, aber auch seine Ironie gegenüber der modernen Industriewelt. Gleichzeitig nehmen ihre Absurdität und Sinnlosigkeit den etablierten Kunstbetrieb aufs Korn. Auf die Spitze treibt er es mit den sich selbst zerstörenden Maschinen, etwa der Skulptur im Garten des Museum of Modern Art in New York 1960, die bei einem Happening explodiert: ein dramatischer Hinweis auf das Potenzial der Zerstörung der Welt in der Zeit des Kalten Krieges. Folgerichtig zählt Tinguely in den 60erJahren neben Arman, Cesar, Yves Klein, Niki de Saint Phalle und Daniel Spoerri zu den Mitbegründern der „Nouveaux Realistes“. Die internationale Anerkennung ist ihm von nun an sicher.
Anerkennung international
Ab 1964 werden Tinguelys „Maschinen“ immer monumentaler und skulpturaler, er malt sie schwarz an und vereinfachte ihre Bewegungen. Gemeinsam mit Niki de Saint Phalle und P. O. Utveldt gestaltete Tinguely 1966 in Stockholm eine große begehbare Frauenskulptur: „Hon“. Ein Jahr später ist er auf der Weltausstellung in Montreal vertreten. Er ist nun global gefragt.
Seine „Maschinen“ werden 1968 erneut im Museum of Modern Art, New York, in der Ausstellung „Dada Surrealism and their Heri tage“ gezeigt. Das Museum of Contemporary Art in Chicago organisiert im gleichen Jahr die erste Retrospektive seiner Werke. 1969 beginnt er im Wald von Fontainebleau mit dem Bau des „Zyklopen“, einer 20 Meter hohen, grotesken Skulptur, an der neben Niki de Saint Phalle auch Künstlerfreunde wie Arman, Bernhard Luginbühl, Rafael Soto und Daniel Spoerri mitarbeiteten. Tinguely erklärt sie als Ausdruck von „Kritik an der Gleichförmigkeit industrieller Vorgänge und der Produktion von unnützen Dingen“. Zwischen 1964 und 1977 ist Tinguely auf der Kasseler documenta 3, 4 und 6 vertreten.