Das himmlische Jerusalem Bayerns
Die Harburg an der Romantischen Straße bei Nördlingen thront als turmreiche Silhouette auf einem steilen Felsen – der 1957 spektakulär untertunnelt wurde. Die wuchtige Burg ficht das nicht an: Sie steht fest und frei – seit 700 Jahren.
Von Christian Personn
Der Stuck fiel in der Schlosskirche St. Michael plötzlich „in faustgroßen Brocken“ von der Decke. In den Wänden des Gotteshauses im Burgkomplex und auch in der Festung hatten sich seit Tagen schon Risse gebildet. Dieser Umstand durfte eigentlich gar nicht sein: Denn die Burg Harburg steht sicher gegründet auf einem – im wahrsten Sinne – steinharten Felsen, und das seit Mitte des 12. Jahrhun-derts. Wie eine stolze Krone auf dem Haupt eines Herrschers.
Und nun im Jahr 2015 drohte die ehemalige Staufer-Burg nachhaltig Schaden zu nehmen. Wahrscheinlich durch Schwingungen verursacht, die beim Einsatz einer Rüttelwalze tief im Inneren des Felsen bis nach oben ausstrahlten. Dort unten wurden damals, vor knapp zehn Jahren, zwei Autotunnel erneuert. Sie sind Teil der Bundesstraße 25, die 1955 bis 1957 aufwendigst durch das harte, bucklige Fundament als Betonröhren getrieben worden war.
Doch wieder einmal erwies sich der Burgfelsen als granitharter Brocken, der alles, ja, wirklich alles aushalten kann. Was sollten ihm die Bohrungen der Straßenbauer anhaben, wo er doch 60 Jahre zuvor 15 000 Sprengungen weggesteckt hatte. Damals wurden wie gesagt die beiden Röhren als Ortsumgehung von Harburg gebaut. Insgesamt sind beide Tunnel 312 Meter lang, der größere der beiden führt direkt unter dem jahrhundertealten Bauwerk durch den Berg.
Urkundlich erstmals erwähnt wird die Burg Harburg 1150 als der 13-jährige Staufer Heinrich, Sohn König Konrads III., einen Brief an seine Tante, Kaiserin Irene, nach Konstantinopel schickte. Darin berichtet er von der bevorstehenden Schlacht gegen den Welfenherzog Welf VI. Zweifelsfrei war der Burgberg aber schon vor der Stauferzeit (1138–1268) besiedelt. Bauwerke und Abschnitte aus der Zeit der Salier (1024–1125) und Ottonen (919–1024) und sogar Fundstücke aus der Römerzeit beweisen die schon sehr frühe und wichtige Lage der Höhenburg über dem Fluss Wörnitz.
Durch die Verpfändung des Schlosses im Jahre 1299 gelangte dieses erstmals in den Besitz der Grafen und späteren Fürsten zu Oettingen. Die Oettinger Grafen bauten das Schloss zu einer mächtigen Festung (220 x 120 Meter) aus. Die wuchtige Burg überstand so Belagerungen, Schlachten und Kriege. Aufgrund ihrer turmreichen Silhouette auf steilem Fels wurde die Harburg später auch als das „Himmlische Jerusalem Bayerns“ bezeichnet.
Zahlreiche Bauwerke der Harburg entstanden im 15. und 16. Jahrhundert. Prägnantestes Gebäude ist der Fürstenbau, von dem aus die Grafen von 1493 bis 1549 ihr kleines Reich mit harter Hand regierten. Den Fürsten diente die Burg als Wohn- und Regierungssitz, es wurden viele kaiserliche und königliche Berühmtheiten empfangen.
Wir wissen das heute so genau, weil sich der wichtigste Teil des protestantischen Hochadels Süddeutschlands mit Unterschrift auf einem gläsernen Prunkgefäß verewigte. Mehr als 30 Besucherinnen und Besucher – darunter Adelige, Landesherrn, Hofprediger, Heerführer und Generäle – ließen ihre Namen, Titulaturen und Jahreszahlen mit einer Diamantnadel in das „Gästebuch aus Glas“ eingravieren. Die Inschriften von 1548 bis 1650 belegen die territorialen und dynastischen Verbindungen der Gastgeber sowie die politischen Wirren der Religionskriege. Bedeutende historische Ereignisse wie die Schlacht bei Nördlingen (1634) und die Ulmer Friedensverhandlungen (1647), die das Ende des Dreißigjährigen Krieges einleiteten. Der achteckige Becher, „Oettingen-Willkomm“ genannt, ist das bislang früheste bekannte Zeugnis dieser damals verbreiteten kulturellen Praxis. Das Gefäß wird heute im Deutschen Historischen Museum in München als wertvolle Ikone ausgestellt.
Unter dem letzten Fürsten Albrecht Ernst II. (1669–1731) der Linie Oettingen-Oettingen wurde die Burganlage im 18. Jahrhundert zur Residenz ausgebaut. Doch nur ein Teil, die Schlosskirche, der Fürstenbau und der Saalbau, wurden wirklich verändert. Ansonsten ist die trutzige Anlage aus heutiger Anschauung eher ein Sammelsurium von Baustilen: Romanische Bausubstanz wohl aus der Zeit kurz vor 1200 zeigen die beiden Bergfriede, der im späteren Fürstenbau vermauerte Palas, Teile der Schlosskapelle St. Michael, die innere Ringmauer und das innere Burgtor. Hussitenzeitlich, das heißt aus der Zeit um 1420/30, ist der südlich und westlich vorgelagerte, turmreiche Zwinger. Die nördlich anschließende Vorburg wurde im späten 15. Jahrhundert ausgebaut. In der Kernburg stellte man 1496 den Saalbau fertig. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfolgte ein erneuter Ausbau: Der Fürstenbau, Kastenbau und Burgvogtei wurden modernisiert. Nach der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg überformte man vor allem im 18. Jahrhundert die Wohn- und Nutzbauten im barocken Stil. Und in der Neuzeit, von 2010 bis 2013, wurde der Saalbau mit dem danebenstehenden Faulturm restauriert, 2023 erfolgt die Sanierung des Turmknechtshauses, eines Anbau an den Weißen Turm innerhalb der Hauptburg.
Aber die heutigen Besucher locken besonders in einer der ältesten, am besten erhaltenen und aufwendig renovierten Burgen Süddeutschlands der fünfgeschossige Fürstenbau und auch der Wehrgang: Heerscharen von Touristen bevölkern im Sommer die Burgmauer mit ihren Schieß- und Kugelscharten. Durch die Schüttlöcher, die nach unten zeigen, schütteten früher die Verteidiger Brennkalk oder Pech auf Angreifer – heute bieten sie einen wunderbaren Blick auf die schwäbische Landschaft rundherum. Und die ins Mauerwerk eingebauten Kugelscharten enthalten eine Besonderheit: bewegliche, durchbohrte Holzkugeln, „Holzaugen“ genannt.
Seit 2000 gehört die Harburg zur gemeinnützige Kulturstiftung des fürstlichen Hauses, die Familie hat den Besitz in diese Stiftung übereignet. Die Schlossanlage wird heute neben den Besichtigungen für Trauungen und Hochzeitsfeierlichkeiten genutzt, im Innenhof und im prunkvollen Festsaal fi nden Klassikkonzerte und Aufführungen statt.