Kleine Stadt mit großem Schloss
Barocke Pracht in der Moderne – Wie die Wolfenbütteler Residenz der Welfen ins Heute strahlt.
Von Stefanie v. Wietersheim
Es ist ein wahres Bijou, voller Charme, Geheimnisse und Zauber. Ein Ort, an den man alleine oder mit Freunden immer wieder gerne zurückkehrt: Schloss Wolfenbüttel – das dem Geschlecht der Welfen über Jahrhunderte Residenz und Musenhof war. Bis heute hat die vierflügelige Anlage mit ihrem Wassergraben eine überzeitliche Atmosphäre bewahrt – auch wenn gegenüber ein Einkaufszentrum mit Parkhaus liegt und von Zeit zu Zeit eine Kirmes auf dem Schlossplatz knatschbunten Lärm verbreitet.
Schloss Wolfenbüttel ist das, was die Engländer so schön als hidden gem bezeichnen: Das in strahlendem Rot leuchtende Haus mit seiner Fachwerkstruktur, in dem die Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg von 1283 bis 1754 regierten, ist das zweitgrößte erhaltende Schloss Norddeutschlands. Direkt daneben liegen die berühmte Herzog August Bibliothek und das gelb gestrichene kleine Lessinghaus. Das magische Dreieck war über die Zeiten hinweg Spielort historischer Episoden, die heute jeden Netflix-Autor zu Serien inspirieren könnten: Der Komponist Michael Praetorius musizierte hier als Hofkapellmeister, Gotthold Ephraim Lessing wirkte als Bibliothekar und schrieb „Nathan der Weise“, später fanden im Schloss Revolutionsflüchtlinge Unterschlupf und gründeten wahrscheinlich eine Tapetenfabrik.
Bei einer Wolfenbütteler Château-Visite kann man nicht nur die 1000 Jahre alte Geschichte auf relativ kleinem Raum entdecken, sondern erlebt die Staats- und Privatgemächer des Museums bei aller Pracht überaus persönlich – man mag fast sagen: gemütlich. Wolfenbüttel ist kein Schönbrunn, Nymphenburg oder Sanssouci, sondern verströmt angenehm provinzielles Old-Europe-Burggefühl. Überquert man den Wassergraben und schreitet nach Überqueren des Burghofes die breite Barocktreppe hinauf, beginnt beim Gang durch die Appartements eine Zeitreise in das 18. Jahrhundert.
„Tatsächlich fängt schon 700 Jahre zuvor alles beim Graben an, und er ist das älteste Relikt, das zu sehen ist“, sagt die Museumsleiterin, Dr. Sandra Donner, die seit dem Jahr 2011 hier arbeitet und seit 2016 das Museum mit spürbarer Begeisterung leitet. „Zu Zeiten der Wasserburg gab es wahrscheinlich eine Zugbrücke, die Ende des 16. Jahrhunderts befestigt wurde, weil man den Schutz einer einklappenden Brücke nicht mehr brauchte, denn die ganze Stadt wurde als Festung ausgebaut und so geschützt.“ Über die Jahrhunderte machten die Herzöge aus dem trutzigen Bau mit dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Turm ein Residenzschloss. „Die Welfen bestimmten Wolfenbüttel nach einer heftigen Auseinandersetzung mit den Braunschweiger Bürgern im Jahr 1432 zu ihrer Hauptstadt und wollten damit auch dokumentieren, wie wichtig sie innerhalb des Herrschaftsgefüges waren“, sagt die Historikerin. Es war Herzog Heinrich II., genannt der Jüngere (1489–1568), der letzte katholischer Fürst im niedersächsischen Raum, der einen modernen Wohnpalast erbauen ließ: Aus dem ehemaligen Wohnturm wurde die Schlosskapelle. Ab 1575 wurden dann im Schlosshof Arkaden im italienischen Stil eingebaut, die später geschlossen wurden, weil es im Norden zu kalt war.
Entscheidend für die Strahlkraft der Stadt aber wurde August der Jüngere (1579–1666), Herzog zu Braunschweig-Lüneburg, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel, der als einer der gelehrtesten Fürsten seiner Zeit galt. Er baute die damals größte Bibliothek nördlich der Alpen aus, die heutige Herzog August Bibliothek. Als er im Jahr 1644 in seine Residenz in Wolfenbüttel zog, brachte er 55 Bücherkisten mit einem Gewicht von 470 Zentnern mit, den Grundstock seiner später berühmt gewordenen Bibliotheca Augusta. Sein Sohn Anton Ulrich (1633–1714), der zweite überlebende Sohn aus der Ehe mit Dorothea von Anhalt-Zerbst, war es dann, der Wolfenbüttel zu einem international bekannten Ort der Kunst und Kultur machte. Seine schillernde Persönlichkeit prägte die Gegend maßgeblich mit barocker Hofkultur in Wolfenbüttel – und im Sommer- und Sammlungsschloss Salzdahlum, das nach dem Vorbild des bei Versailles liegenden Schlosses Marlyle-Roi erbaut wurde. Anton Ulrich erweiterte die schon legendäre Bibliothek seines Vaters, ließ ab 1712 eine Bibliotheksrotunde auf den Überresten des alten Marstalls als ersten selbstständigen Bibliotheksbau in Deutschland errichten – und stellte Gottfried Wilhelm Leibniz als Bibliothekar ein. Theater und Oper spielten eine herausragende Rolle: Der Hof ging mindestens dreimal pro Woche zu Aufführungen im eigenen riesigen Haus, das außen wie eine Scheune wirkte, innen jedoch mit moderner Bühnentechnik ausgestattet war. Zudem war die Hofkapelle berühmt, da Herzog Anton Ulrich jedes Jahr zum Karneval nach Venedig fuhr, neue Inszenierungen ansah und Künstler in sein Land holte.
Eine Ahnung dieser Zeit bekommt man beim Rundgang durch die historischen Schauräume des Schlossmuseums, denn das hochadelige Raumprogramm mit dem Konzept der getrennten Appartements für Herzog und Herzogin ist hier beispielhaft zu sehen. Beim Besuch durchläuft man über knarzenden Parkettböden die Raumfolge, die auch ein adeliger Besucher Herzog Anton Ulrichs im 18. Jahrhundert durchschritten hätte: vom Antichambre ins Audienzzimmer und dann, als Höhepunkt in das ganz in Gelb gehaltene Paradeschlafzimmer. Dass die Farbwahl durchaus politisch sein kann, zeigt daneben das in Blau und Gelb gestaltete Kabinett des Herzogappartements, das seiner Familie und dem Geheimen Rat vorbehalten war. Die Farbkombination, die viele heute mit dem Braunschweiger Fußballverein Eintracht oder der Stadt Braunschweig verbinden, zeigte ursprünglich die Wolfenbütteler Hoffarben und auch die Lüneburger Farben – einen Landstrich, den Herzog Anton Ulrich in seinen Besitz bekommen wollte. Erst später wanderten die Farben mit dem Umzug der Welfen nach Braunschweig. Der Lebensbereich einer barocken Herzogin ist neben dem Lebensbereich des Herzogs zu durchlaufen: Das Appartement von Philippine Charlotte (1716–1801), einer Schwester Friedrichs des Großen, ist ebenso prachtvoll wie das des Herrschers. „Durch ihre hohe Abstammung stand ihr ein eigener schöner Bereich zu – es galt die Regel: je vornehmer die Frau, umso prächtiger auch ihre Räume“, erklärt Museumsdirektorin Sandra Donner. Das Gegenprogramm dazu manifestierte sich, als Anton Ulrichs Bruder Rudolf August in zweiter Ehe eine Bürgerliche heiratete. „Diese Frau fand am Hof nicht statt, und so war es ihr auch nicht erlaubt, ein eigenes Appartement zu haben.“
Erstaunlich, aber wahr
Neben seiner absolutistischen Geschichte ist das Wolfenbütteler Schloss ein wichtiges Stück deutscher Emanzipationsgeschichte der Frauen. Denn im Jahr 1866 wurde hier eine Mädchenschule eingerichtet, nachdem die Welfen ihre Residenz wieder nach Braunschweig verlegt hatten. „Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Magistrat der Stadt sogar überlegt, das Schloss wegen seines schlechten Zustandes abzureißen, weil er die Unterhaltskosten scheute“, erzählt Sandra Donner. Doch die Pädagogin Henriette Breymann, die in der Tradition Pestalozzis und Fröbels arbeitete, gründete mit der vermögenden Wolfenbütteler Bürgertochter Anna Vorwerk eine Reformschule. Die Schule zog Pensions-schülerinnen an, und so wurde der Zustrom der rund 500 Kundinnen auch ein wirtschaftlicher Erfolg für die Stadt. „Wir haben es der Schule zu verdanken, dass das Schloss noch steht“, sagt Sandra Donner.
Schloss Wolfenbüttel gehörte den Welfen bis zum Ende der Monarchie 1918. Heute ist es Besitz des Landes Niedersachsen, von dem es die Stadt über einen 100-Jahres-Vertrag pachtet. Unterstützt werden die Ausstellungen des Schlossmuseums immer wieder von der in Wolfenbüttel ansässigen Curt Mast Jägermeister Stiftung, die Schauen wie die kürzliche Ausstellung mit Werken Tony Craggs ermöglichte. „Dass wir in historischen Räumen auch zeitgenössische Kunst zeigen, ist uns wichtig, denn sie gibt uns eine komplett neue Perspektive auf das vermeintlich Bekannte“, schwärmt Sandra Donner. Aktuell ist die Leitung des Schlosses dabei, mithilfe von Förderverein, Mäzenen und Stadt ein sehr großes Objekt aus dem Bereich der Hof- und Tischkultur zu erwerben. Schönes Porzellan ist im Haus ein wichtiges Thema, ist seine Historie doch eng verbunden mit der Porzellanmanufaktur Fürstenberg, deren Gründungsurkunde hier im Jahr 1747 aufgesetzt wurde.
Aktuelle Aufarbeitung
Aktuell beschäftigt sich das Museum zudem mit dem kolonialen Erbe der Welfen. Anschauungsobjekte sind – im Audienzzimmer des Herzogs – zwei große Mohrenskulpturen, Geschenke des russischen Zaren Peter des Großen, dessen Sohn Alexei die Enkelin Herzog Anton Ulrichs, Charlotte Christine, geheiratet hatte. „Wir können – wenn international vernetzte Forschungen weitergetrieben werden – an unseren Objekten erklären, wie Schwarze Menschen als Statussymbole der Herrscher zu uns kamen, wie sie hier lebten und wie sie gesehen wurden“, erklärt Museumsdirektorin Sandra Donner. „In Wolfenbüttel gab es relativ früh, nämlich ab dem 16. Jahrhundert, insgesamt 40 Afrikaner und Afrikanerinnen, die wahrscheinlich über den niederländischen Sklavenhandel an den Hof kamen und hier lebten“, erklärt Sandra Donner. Sie arbeiteten als Diener, Pauker und Trompeter, und Quellen berichten auch von einer Schwarzen Bediensteten der Welfen, die später in eine bürgerliche Familie in Braunschweig einheiratete. Der berühmteste Schwarze war jedoch der spätere Philosoph Anton Wilhelm Amo, der im 18. Jahrhundert als Junge aus Guinea verschleppt wurde und auf ein Schiff der Niederländisch-Westindischen Gesellschaft über Amsterdam an den Wolfenbütteler Hof zu Herzog Anton Ulrich und dessen Sohn Wilhelm kam. 1708 in der Salzdahlumer Schlosskapelle getauft, wurde er im Kirchenbuch als „kleiner Moor“ bezeichnet. Taufpate und Namensgeber waren Herzog Anton Ulrich und sein Sohn August Wilhelm. „Amo war livrierter Bedienter des Herzogs, er logierte im Schloss und bekam ein Gehalt, das er quittierte“, erklärt Sandra Donner.
Da Amo in Wolfenbüttel eine gute Ausbildung erhielt, studierte und lehrte er später an den Universitäten Wittenberg, Halle und Jena. 1747 kehrte er nach Afrika zurück, wo er starb. Wie in kommenden Jahren die Geschichte der verschleppten Afrikaner an deutschen Fürstenhöfen weitergeschrieben wird, könnte auch von den Forschungen rund um das Wolfenbütteler Schloss abhängen.