Die sechste Generation
Seit 1846 ist das Gut Nettehammer bei Andernach im Besitz der Familie Luithlen – und jede Generation fand neue Wege, um das Erbe zu erhalten.
Von Dorothee Gräfin v. Walderdorff
Es geht weiter – und das ist gut so“, murmelt Hermann-Viktor Luithlen, während er keuchend die Treppe zum noch (!) eiskalten Saal hochsteigt. An den Wänden hängen Ahnen im goldenen Rahmen. Es ist keine Galerie der Schönheiten, aber ein bewusst platzierter Verweis auf die Tradition. „Wer bei uns heiratet oder feiert, bucht das historische Ambiente“, erklärt der Gutsbesitzer, der in seiner englischen Tweedjacke mit jedem Landlord mithalten kann. Unterhaltsam führt er durch Haus und Hof. Man hat den Eindruck, hier wird ein blühendes Erbe von Generation zu Generation weitergegeben. Aber so war es nicht!
Seit dem Bau im 12. Jahrhundert hat das Gut an der Nette, einem Nebenfl uss des Rheins, nicht nur seine Herren, sondern auch seine Bestimmung gewechselt.
Die Hammermühle
Erstmals 1138 urkundlich erwähnt, wurde auf dem damals noch Nettemühle genannten Gut Getreide gemahlen. Im frühen 18. Jahrhundert wurde die Mühle dann zur Hammermühle für Eisenverarbeitung umgebaut. Im Jahr 1846 schließlich kam das Gut in den Besitz der Familie der heutigen Eigentümer. Peter Backhausen kaufte und erweiterte den Nettehammer. Sein Sohn Otto, verheiratet mit einer vermögenden Schweizerin, baute die Produktionshallen aus. Dank Großaufträgen vom Militär werden an 17 Hämmern Metallgeschirr, Töpfe und Drahtstifte produziert. Die Gewinne wurden in den Ankauf von Ländereien und den Aufbau eines landwirtschaftlichen Betriebs gesteckt.
Mit dem Wohlstand kam der gesellschaftliche Aufstieg. Nicht nur der rheinische Adel traf sich bei Dr. Fritz Backhausen und seiner Frau Elly geb. v. Scheel, die mittlerweile den Besitz übernommen hatten. Johannes Brahms machte Station auf Gut Nettehammer, mit Gerhart Hauptmann pfl egte man gar verwandtschaftliche Beziehungen. Sein ältester Sohn Ivo heiratete Erica v. Scheel, die Schwester von Elly Backhausen. Erica v. Scheel war die begabteste und wohl auch die beliebteste Schülerin des belgischen Architekten und Designers Henric van de Velde. Auf gemeinsamen Reisen kehrte man bei der rheinischen Verwandtschaft ein. Die Freundschaft zwischen dem Ehepaar Backhausen und dem bis heute bekanntesten Vertreter des Jugendstils führte dazu, dass man sich beim Umbau der repräsentativen Fabrikantenvilla, 1905, von den Vorstellungen van de Veldes leiten ließ und mit seinen Möbeln (die heute als teure Raritäten gehandelt werden) ausstattete.
Krieg und Konkurs
Den Goldenen Zwanzigern folgten auch auf Gut Nettehammer düstere Zeiten. Mit nur 57 Jahren starb Dr. Fritz Backhausen. Mitgerissen vom allgemeinen Niedergang der Weltwirtschaftskrise musste 1930 für das Eisenwerk Konkurs angemeldet werden. Geblieben ist die Landwirtschaft, die Rettung während der bald folgenden Kriegsjahre. Eine Fliegerbombe der Alliierten traf das Herrenhaus. Die Witwe und ihre Kinder, Klaus und Nora, blieben verschont – das Symbol für den Aufstieg der Unternehmerfamilie aber verfi el zur Ruine, die bis heute nicht wieder aufgebaut wurde.
Im September 1943 starb der junge Hoferbe an einer Lungenentzündung. Das Gut ging an seine Schwester Nora, die Dr. Wilhelm Luithlen aus dem benachbarten Andernach geheiratet hatte. Eine gute Partie. Der Bräutigam war Mitinhaber der Fino-Werke, die die Wehrmacht mit Trockengemüse und Brühwürfeln versorgte. Das Paar bekam vier Söhne und zwei Töchter, Haus und Hof erfüllte neues Leben. „Ich hatte eine glückliche Kindheit“, erinnert sich Hermann Luithlen. Den sechs Geschwistern gesellten sich die drei Töchter des Pächters Hans Georg Freiherr v. d. Pahlen. Als Direktor der Fino Werke sicherte Wilhelm Luithlen den Unterhalt der großen Familie und den Erhalt der Gutsgebäude. Als die Kinder erwachsen waren, wollte Nora Luithlen „mit warmer Hand“ übergeben, die Rollen wurden zugeteilt. Die beiden Töchter schieden von vornherein aus. Der älteste Sohn Lutz wollte eigene Wege gehen, der Zweitgeborene, Eberhard, sollte die Nachfolge des Vaters bei den Fino-Werken antreten und Georg die Landwirtschaft übernehmen. Damit hatte der jüngste Sohn, Hermann-Viktor, genannt Hinz, freie Wahl und entschied sich für eine Ausbildung im Hotelfach. Dann aber starb im Alter von nur 30 Jahren sein Bruder Georg. Hinz hatte bereits eine Lehre im feinen Hotel „Excelsior Ernst“ in Köln angetreten. Seine Mutter jedoch drängte ihn, zurück nach Hause zu kommen. „Statt im feinen ,Excelsior‘ landete ich auf dem Misthaufen“, scherzt er.
Der „Junge“ wird gut ausgebildet, macht unter anderem eine Lehre beim Freiherrn v. Stauffenberg in Ristissen. Als staatlich geprüfter Landwirt kehrt er zurück auf den Nettehammer. Dort erwarten ihn 76 Hektar Ackerland, 3000 Hühner, eine Kuhherde und zwei Mitarbeiter. Luithlen übernimmt – ackert und rackert. Abends aber tauscht er Gummistiefel gegen Budapester und vergnügt sich in Bonn. Im Partygewühl entdeckt er die attraktive, blonde Karin Christian. Kein Jahr später wird geheiratet. Sie bekommen eine Tochter, Johanna, die später Fabio Mancini heiraten wird und mit ihrer Familie in Mailand lebt. 1977 wird Sohn Friedrich, genannt und bekannt als Fritz, geboren. Gemeinsam mit der Mutter/Schwiegermutter leben sie unter einem Dach. „Es war nicht immer einfach“, sagen sie. Aber die Tradition wird fortgeführt. Und jeder hat sein eigenes „Revier“: Karin kümmert sich mit Hingabe um den Park und widmet sich in ihrer knappen Freizeit der Malerei. Die Seniorin züchtet Pferde, und Hinz müht sich in der Landwirtschaft, muss dann aber feststellen: „Es bleibt und bleibt nichts übrig!“ Die traurige Erkenntnis zwingt zum Kurswechsel. Wieder beweist er seine Flexibilität und mutiert vom Bauern zum Prokuristen bei den Fino-Werken. Später wechselt er zu einer Tochterfirma von Pfeifer & Langen und baut den weltweiten Export von Bioprodukten auf. Die Landwirtschaft wird wieder verpachtet und im Übrigen: „Karin war ja da!“
Im Jahr 2000 – die Bonner sind nach Berlin gezogen, und der Euro ist auf dem Weg – setzen sich Hermann und Karin Luithlen über die allgemeine Tristesse hinweg, verwandeln die Fabrikhallen des Eisenwerks in Festsäle und machen das Gut Nettehammer zur Eventlocation.
Ihr Optimismus zahlt sich aus. Im letzten Jahr wurden auf Gut Nettehammer 49 Hochzeiten gefeiert, dazu kommen noch Familienfeiern und Fototermine für Werbeaufnahmen im Park der Anlage. Der Caterer hat mittlerweile seine Küchen für die Bewirtung der Gäste im Saal und auch in der Remise fest installiert. Das Programm „Hochzeit“ ist gut einstudiert, für die Bedürfnisse der Gäste wird bestens gesorgt. Sogar ein Raum „zum Nasepudern“ für die Braut und ein Kinderzimmer für kleine müde Partylöwen steht bereit.
Frischer Wind auf dem Gut
Der Aufschwung zur häufig gebuchten Eventlocation ist das Werk der „next generation“. Vor zehn Jahren übergab Hermann-Viktor Luithlen das Gut an seinen Sohn Fritz. Seine Heirat mit der Architektin Laura von Minckwitz war, so Fritz, „ein Sechser im Lotto“ – für ihn und auch für das Gut.
Neben vier kleinen Kindern steigert die tatkräftige junge Frau den Nebenerwerb zur stattlichen Einnahmequelle mit einem Rundumschlag: Sanierung der Säle, Produktion eines einladenden Werbefilms, einer Website und schließlich der Zusammenschluss mit rund 50 Kooperationspartnern.
Gleichzeitig widmet sich die an der ETH Zürich ausgebildete Architektin einem weiteren herausfordernden Großprojekt: der Sanierung des 1780 erbauten „Uhrhauses“. Bis zum Umbau waren im Untergeschoss noch eine Schmiede und eine Waschküche untergebracht. Mit vielen Ideen und handwerklichem Geschick plant und organisiert Minckwitz die Kernsanierung des alten Gemäuers und verwandelte es in ein elegantes, zeitgemäßes Zuhause für ihre Familie. Der Uhrturm, das Herz des Hofes, wird erstmals gedämmt. Nun können Wind und Wetter dem historischen Prachtstück nichts mehr anhaben, das alte Uhrwerk tickt und schlägt – vorausgesetzt es wird, wie eh und je, alle 24 Stunden aufgezogen. Einen großen Teil der Umbauarbeiten steuert Laura von Minckwitz aus der Ferne – von Frankfurt aus. Da sich das Gut aus sich heraus schwer halten und erst recht nicht modernisieren lässt, verdient Fritz, wie sein Großvater und sein Vater, die „Brötchen“ in der Industrie. Er arbeitet bei einer Frankfurter Bank als Leiter des Debt Capital Markets, einer Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kapitalmärkten.
Als im ersten Corona-Lockdown das Leben mit vier temperamentvollen Kindern in der Stadt zur Nervenprobe wird, zieht Laura mit ihnen auf den Nettehammer, und Fritz wird zum Wochenend-Pendler mit einem fordernden Beruf und Nebenjob als Gutsverwalter. Viel Freizeit bleibt ihm nicht. An den Wochenenden im Familienkreis, so erzählt er, „sitzt der Betrieb als Hauptperson immer mit am Tisch“. Beim Essen wachsen neue Projekte, wie zum Beispiel die Renovierung der Pferdeställe (Baujahr 1846).
Idyll für Ross und Reiter
Als der langjährige Betreiber von Einstellpferden aufgibt, stellt sich die Frage: Lassen sich die Ansprüche moderner und artgerechter Pferdehaltung überhaupt in eine dafür nicht konzipierte, denkmalgeschützte Architektur übertragen? Wieder vertieft sich Laura von Minckwitz in die Materie, macht sich mit den Anforderungen moderner Pferdehaltung vertraut, plant und legt oft selbst mit Hand an – bis aus düsteren Stallungen lichtdurchfl utete Paddockboxen werden. Sogar ein in Betonröhren verlaufender Bach wird umgelegt und renaturiert, um einen matschfreien Platz zu erhalten.
Jetzt können die Pensionspferde auf dem Reiterhof Nettehammer im Sommer über Weiden galoppieren und im Winter auf dem Paddock traben. Die Hobbyreiter haben die Wahl: Halle, Longierzirkel und Trailplatz mit Geschicklichkeitsparcours für Ross und Reiter, oder aber ein Ausritt zur Pferdebadestelle an der Nette.
Die Flutkatastrophe
Im Sommer 2021, nur zwei Wochen nach Fertig stellung der Arbeiten auf dem Reiterhof, kam die Flut. Wassermassen überschwemmten den Hof, drangen in die historischen Gebäude ein. Mitten in der Nacht mussten die Pferde aus bald hüfthohem Wasser bei immer stärker werdender Strömung aus ihren Boxen geholt und auf eine Anhöhe geführt werden. Es waren dramatische Stunden, denen die schiere Verzweifl ung folgte. Neue Zäune lagen wie hingeworfene Streichhölzer auf den Wiesen, gerade restaurierte Boxentüren schwammen im Brackwasser. Wochenlang schuftete Fritz Luithlen mit Freunden und freiwilligen Helfern, während seine Frau im Netz wirbelte und eine berührende Spendenaktion in Leben rief. Der bald fünfstellige Betrag half, die dringendsten Reparaturen zu finanzieren.
Inzwischen sind, bis auf die Brücke, alle Schäden behoben und mit dem Ende der Corona-Beschränkungen wird geheiratet und gefeiert wie nie zuvor. Und das Resümee? Fritz Luithlen erklärt: „Es lohnt sich, immer! Denn welch schöneres Zuhause könnten wir unseren Kindern bieten?“ Und sein Vater betont noch einmal beim Abschied: „Es geht weiter - und das ist gut so.“ Und ein zufriedenes Lächeln huscht über sein faltiges Gesicht.