Gut Drült

Das Märchen-Schloss

Hoch über der Honau und dem Echaz-Tal thront Schloss Lichtenstein. Ein Bauwerk mit vermutlich einzigartiger Historie: Bauherr Wilhelm Graf von Württemberg hatte in einem Roman von einem Märchenschloss gelesen – und ließ es kurzerhand nachbauen

Von Christian Personn

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Wir Menschen lieben es, Kind zu sein. Kaum etwas zieht uns so magisch an wie die Gefühle von „damals“: wohliges Erschrecken, Schaudern vor Gruseligem. Und es scheint also mehr als ein Marketinggag zu sein, wenn in Schloss Lichtenstein ein Schlossgespenst als Museumsguide fungiert. Gespenst Alfons bürgt dafür, dass es hier wahrlich spukt, so wie die Brüder Grimm ein „schlosz in dem es spukt“ beschrieben: verwunschene Rittersleute, halb zerfallene Burgmauern und ein entschiedener Blitzeinschlag, der das Gemäuer zerstörte.

Alfons erzählt dann auch entsprechend die Historie: „Vor ganz, ganz langer Zeit haben die Ritter vom Lichtenstein sich hier auf der Felsspitze eine Burg gebaut. Mit allem, was so eine Ritterburg braucht: Mauern, Schießscharten, Feuerstelle, einen Stall für die Pferde, eine Zugbrücke und natürlich einen Fluchtweg. Schon damals habe ich hier gewohnt, aber da es ja eine Burg war, war ich eben ein Burggespenst. Leider ist die Burg dann bei einem Gewitter vom Blitz getroff en worden und war ziemlich kaputt. Die Ritter sind weggezogen, und ich bin ganz alleine hier geblieben.“ Dann habe sich Graf Wilhelm, genauer Herzog Wilhelm von Urach, Graf von Württemberg, den Lichtenstein gekauft und dieses Schloss gebaut. „Und weil es jetzt ein Schloss ist, bin ich jetzt eben ein Schlossgespenst.“

Hofgarten

Ein bisschen muss die muntere Erzählung von Gespenst Alfons übersetzt, also ergänzt werden: Die Herren von Lichtenstein (der letzte von ihnen fi el 1687 im Kampf gegen die Türken) ließen 1390 die ursprüngliche Burg erbauen, die als eine der wehrhaftesten des Mittelalters galt. Lage und Wehrmauern sorgten für idealen Schutz der Bewohner. Doch verlor der Ort 1567 seinen Rang als Herzogsitz – und verfi el. Ob tatsächlich der Blitz einschlug, ist nicht überliefert. Die Fakten sind: 1802 wurde die Burg bis auf die Grundmauern abgetragen und durch ein einfaches Forst- und Jagdschlösschen ersetzt, nur wenige Meter entfernt.

1837 erwarb Wilhelm Graf von Württemberg von seinem Vetter, König Wilhelm von Württemberg, das Forstschlösschen samt Besitz rundherum. Und jener Graf war dem damaligen Zeitgeist ziemlich verfallen und ließ sich aus – nennen wir es mal Geltungssucht – zum Bau eines Bauwerks inspirieren, das auf einem Liebesroman basierte: „Lichtenstein“ von Wilhelm Hauff . Der Autor, den wir heute eher als Märchenerzähler einordnen, beschrieb in seiner üppigen Erzählung (rund 420 Seiten) eigentlich die Fehde zwischen dem Schwäbischen Städtebund und Herzog Ulrich von Württemberg von 1519. Doch übergoss der Romancier das historische Traktat mit einer Schmonzette: der Liebesbeziehung zwischen dem Junker Georg von Sturmfeder und Marie von Lichtenstein.

Wilhelm Hauff schuf mit diesem Buch „den ersten deutschen historischen Roman“, ordnen das heute Germanisten ein. Der 1826 erschienene Roman wurde zum Bestseller. Das große Echo animierte Graf Wilhelm von Württemberg 1840/41 die Burg Lichtenstein nach dem literarischen Vorbild neu zu errichten. Wilhelm war der Romantik zugetan, die im Kontrast zur Industrialisierung das Mittelalter zum verklärten Ideal erhob. Auch aus Begeisterung fürs Militär, speziell die Artillerie, wollte Wilhelm eine Burg bauen, „welche an Kühnheit der Lage, Festigkeit der Bauart, teutscher Bequemlichkeit des Innern, gepaart mit einfacher, edler Schönheit … selbst Hohenschwangau übertreff en sollte.“

Wilhelm machte genaue Angaben für „NeuLich-tenstein“, auf dessen Felsen das Forsthaus abgetragen und an heutiger Stelle, einige Hundert Meter entfernt, neu erbaut wurde. Er forderte einen hohen Turm für sein Observatorium, „einen großen geräumigen Saal, einige niedliche Zimmer, eine kleine Capelle“ sowie Erker, die nicht begehbar sein mussten, sondern allein der Optik dienten. Viele Zinnen und ein unterirdischer Fluchtweg standen ebenfalls auf der Wunschliste.

Familie

Im 19. Jahrhundert wurden mittelalterliche Burgen oder Schlösser oft völlig neu errichtet. Sie entstanden in freier Landschaft – Folge eines verändertes Naturverständnis seit Mitte des 18. Jahrhunderts und beeinfl usst durch die Freude an englisch geprägten Parkanlagen. Und sie waren – wie im Schwäbischen – dem Trend in Literatur und Malerei an alten Burgruinen geschuldet. Man wählte für diese Bauten einen durch historische Tradition geprägten Standort, um hier Geschichte erlebbar zu machen. Mal war es ein Schloss, mal eine Burg, die sich in ihrem architektonischen Formenrepertoire aber kaum unterschieden. Sie hatten ja längst ihre ursprüngliche Funktionen als wehrhafter Schutzbau und Residenz verloren und dienten letztendlich ausschließlich als Statussymbol, Herrschaftssymbol – oder als Eigendenkmal des Bauherrn.

Eine deutsche Ritterburg im Stil des Mittelalters wurde also dieser Neubau bei Reutlingen. Allerdings bezog der die Mauern der alten Burg bis zum zweiten Stockwerk mit ein. Die Ausführungen der dekorativen Verzierungen und Wandmalereien in den Innenräumen des Schlosses übernahm Maler Eberlein aus Nürnberg. Die Seele des Ganzen aber war „der erlauchte Bauherr mit seinen genialen Ideen stets selbst“, wie zeitgenössische Berichte informieren.

Gartensaal

Mit besonderer Liebe und seinem Verständnis für Kunst und Heimat (Graf Wilhelm war 1. Vorsitzender des Württembergischen Altertumsvereins) wurden die Räume des Schlosses ausgestattet. Für enorm viel Geld wurden Möbel, Tapeten und Dekoratives nachgebaut – alles echt, aber nicht zeitgemäß. Schloss Lichtenstein wurde 1842 in Anwesenheit des Königs eingeweiht. Graf Wilhelm liebte sein Schloss und lebte hier überwiegend – und er starb dort auch, im Jahr 1869. Fortan war es Stammsitz der Herzöge v. Urach, Grafen v. Württemberg, von denen noch heute einige zeitweise dort leben.

Ab 1980 begannen die Restaurationsarbeiten an der Außenseite, an Turm und Dach. Im Laufe der weiteren Jahre bis 1998 fanden die Arbeiten am ersten Stock statt. Ab 1998 wurde die Restaurierung der zweiten und dritten Stockwerke, gefördert durch die Wüstenrotstiftung und eine Fördergemeinschaft, durchgeführt. Sehr beliebt sind heute Hochzeiten auf Schloss Lichtenstein. Wer mag, kann von März bis Dezember im hier befi ndlichen Standesamt heiraten.

Die Märchenburg hat übrigens auch weltweit einige Bekanntheit erreicht – zumindest bei Fans von Videospielen. Ein Level des millionenfach gekauften und gespielten „Super Street Fighter II“ ist auf Schloss Lichtenstein angesiedelt. Für den Erfolg dürfte die mystische Begeisterung für Spukgeschichten wieder im Spiel sein.

Mehr Infos, auch zu Führungen, unter www.schloss-lichtenstein.de

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